Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Her!«
Am schlimmsten war es in den letzten Wochen gewesen, als die Ereignisse sich zuspitzten und nicht nur Jacopo, sondern auch Alvise Clarissa immer mehr unter Druck gesetzt hatten, um sie für ihre Ziele einzuspannen.
»Am Ende tat ich einfach so, als würde ich bei allem mitmachen, weil Alvise drohte, mich umzubringen. Aber niemals wollte ich jemandem Schaden zufügen!«
Ich fand, dass sie genug gebüßt und ein bisschen Glück verdient hatte. Deshalb freute es mich, dass sie entschied, bei Bart zu bleiben.
»Jetzt, da ich weiß, dass ich jederzeit in meine Zeit und nach Paris zurückkann, will ich es nicht mehr«, gestand sie mir. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Irgendwie komisch, oder?«
Ich fand es ganz und gar nicht komisch, denn ich fühlte ähnlich. Zumindest gelegentlich, etwa wenn Sebastiano und ich gerade wieder einmal vor dem Kamin saßen und uns aneinanderkuschelten. Der Unterschied zwischen mir und Clarissa bestand jedoch darin, dass ich Sebastiano in der Zukunft wiedersehen konnte, sie jedoch mit Bart nur in seiner eigenen Zeit zusammen sein konnte. Deshalb stellte sich mir die Frage nicht, ob ich lieber hierbleiben oder abreisen wollte. Mein Leben lag in der Zukunft, auch wenn ich hier wunderbare Freunde gefunden hatte, die ich sehr vermissen würde. Das galt für Clarissa und Bart ebenso wie für Marietta und Trevisan; ich kämpfte jedes Mal mit den Tränen, wenn ich mir klarmachte, dass ich sie alle nie wiedersehen würde.
Doch noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ich meine Eltern nicht hätte wiedersehen können. Ich sehnte mich mit solcher Inbrunst nach ihnen, dass es fast wehtat, an sie zu denken. Ohne Schule oder iPod oder Schokolade hätte ich vielleicht auf Dauer auskommen können, aber nicht ohne Mama und Papa.
Am Tag vor dem Mondwechsel ging ich noch einmal zum Kloster, weil mich aus unerklärlichen Gründen das Schicksal von Doroteas Papagei beschäftigte. Meine Frage nach Polidoro wurde prompt von Schwester Giustina missverstanden. Sie drückte mir einfach den Käfig in die Hand und erklärte, das ganze Kloster sei froh, dass ich ihn haben wolle, denn sein fortwährendes Gekrächze sei nicht mehr auszuhalten. Ich solle ihn nur rasch fortbringen, dann müsse ich auch nichts dafür zahlen, dass man ihn wochenlang durchgefüttert habe.
Ich wollte keine Debatte anzetteln und nahm Polidoro mit. Mir war nicht danach, mich länger als unbedingt nötig in San Zaccaria aufzuhalten. Nicht nur, weil sich schon wieder Dutzende von jungen Nonnen im Hof eingefunden hatten, um Sebastiano anzuschmachten, der beim Tor auf mich wartete, sondern weil mich die Erinnerung an Dorotea belastete. Eine Zeit lang hatte ich sie verabscheut, doch inzwischen empfand ich bloß noch Mitleid für sie. Sie hatte ein schreckliches Ende gefunden, nur weil sie den falschen Mann geliebt hatte.
»Was sollen wir jetzt mit dem Vogel machen?«, wollte Sebastiano wissen.
Ratlos betrachtete ich den Käfig. »Es war wohl nicht besonders schlau, ihn zu holen, oder?«, fragte ich kläglich.
Doch das Problem löste sich rasch, denn Marietta war bezaubert von Polidoro, zumal er sofort ihren Namen nachsprechen konnte und sie mit Komplimenten entzückte. Er musste nur einmal »Marietta, meine Schöne« krächzen und schon hatte er ihr Herz gewonnen.
»Tief im Inneren werde ich wohl immer eine Kurtisane bleiben«, sagte sie. »Jedenfalls ein kleiner und eitler Teil von mir. Der größere und klügere Teil wird brav auf Trevisans Antrag warten. Ich rechne noch vor Weihnachten damit. Will vielleicht jemand dagegen wetten?«
Niemand wollte.
Dann kam mein letzter Tag im Venedig des Jahres 1499. Ich hatte schon in der Nacht davor schlecht geschlafen und war stundenlang vor dem großen Himmelbett hin- und hermarschiert und bei Tage war ich noch nervöser. Um die Mittagszeit wanderte ich ein letztes Mal mit Sebastiano durch die Stadt. Inzwischen war der Herbst weiter fortgeschritten, die wenigen Bäume, die es hier gab, warfen bereits ihre Blätter ab und es war so kalt, dass man seinen eigenen Atem sehen konnte.
Fischer, Händler, Hafenarbeiter und Matrosen bevölkerten in buntem Durcheinander die Riva degli Schiavoni und gingen ihrer Arbeit nach. Es roch nach Meer und Rauch. Sebastiano und ich schlenderten am Kai entlang und sahen den auslaufenden Schiffen zu. Das Knattern der Segel mischte sich mit dem Brausen des Windes und dem Rauschen der Wellen.
Auf dem Rückweg fuhren wir mit der Gondel den Canal Grande entlang. Wir
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