Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
brauchte.
Mittlerweile wusste ich, dass sie Juliane hieß, schon deshalb, weil sie es innerhalb von drei Tagen irgendwie geschafft hatte, sich mit meinen Eltern zu duzen. Sie und ihr Mann trafen meine Eltern zufällig abends in der Hotelbar und in null Komma nichts fand man bei ein paar Gläsern Rotwein heraus, wie viele gemeinsame Interessen man hatte, und schon war man per Du.
Juliane Tasselhoff schleppte meine Mutter zur Biennale und mein Vater zeigte Heinrich Tasselhoff seine Ausgrabungsstätte am Palazzo Tassini. Ich selbst hatte keine Lust auf überfüllte Kunstausstellungen oder uralte Schutthalden. Mit Matthias loszuziehen erschien mir als das kleinere Übel, also vertrieben wir zwei uns zusammen die Zeit. Wir liefen kreuz und quer durch die Stadt oder schipperten mit den Vaporetti durch die Kanäle. Einmal fuhren wir mit dem Lagunenboot nach Burano und besichtigten auf dem Rückweg Murano. Damit war gleich ein ganzer Ferientag ausgefüllt, ohne dass ich etwas Spannenderes gesehen hätte als viele bunte Häuser (auf Burano) und viel buntes Glas (auf Murano).
Später sollte ich es noch sehr bereuen, dass ich nicht stattdessen Papa begleitet oder mich wenigstens nach Mr. Bjarnignokkis Fundstück erkundigt hatte. Mein Vater erwähnte kurz, dass er das merkwürdige Dokument ins Labor geschickt habe, um die Echtheit zu überprüfen.
»Stell dir vor«, hatte er gemeint, »es wurde ganz offensichtlich von einer Frau geschrieben, die denselben Vornamen hatte wie du!«
»Anna?«, hatte ich etwas dümmlich zurückgefragt.
Er nickte. »Aber wie gesagt, es ist noch nicht geklärt, ob es echt ist. Wegen gewisser handschriftlich aufgebrachter Ornamente, die bei oberflächlicher Deutung anachronistische Implikationen indizieren.«
Ich verstand nur Bahnhof und versäumte es, genauer nachzufragen.
Mein Desinteresse hing zum Teil damit zusammen, dass mir dieser Winner nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich musste ständig an ihn denken. Was für blaue Augen er gehabt hatte. Wie geschmeidig er sich bewegt hatte. Wie er mich angesehen hatte!
Wenigstens war das Jucken seither nicht wieder aufgetreten, dafür konnte ich wohl dankbar sein. Und dafür, dass es anscheinend falscher Alarm gewesen war – es war ja nichts Schlimmes passiert. Ich tendierte mittlerweile immer mehr zu Mamas Meinung, nämlich ihrer These über intermittierende Wahrnehmungsstörungen. In Alltagssprache übersetzt bedeutete das so viel wie ab und zu auftretende Verpeiltheit . Doch ich war bereit, das zu akzeptieren. Hauptsache, es wiederholte sich nicht.
Dann kam der Sonntag, der Tag der Regata storica. Ab da lief alles aus dem Ruder. Im wahrsten Sinne des Worte.
Heinrich und Juliane fanden, es sei eine gute Idee, gemeinsam zu frühstücken, bevor wir zu der Veranstaltung aufbrachen. Meine Eltern stimmten zu und so trafen wir uns am Sonntagmorgen im Frühstücksraum zu einer mörderisch frühen Uhrzeit. Ich war so müde, dass ich noch Stunden hätte schlafen können, aber Juliane Tasselhoff erklärte, wenn wir nicht rechtzeitig einen guten Platz am Ufer des Canal Grande ergatterten, würden wir höchstens die Wimpel an den Masten sehen, aber keines von den Booten, geschweige denn die traumhaften Kostüme der darin sitzenden Menschen.
Normalerweise, so berichtete sie, hätten wir uns das Spektakel von der Loggia eines Palazzo direkt am Kanal anschauen können. Dort wohnte nämlich ein Golfpartner von Heinrich, dem es eine Freude gewesen wäre, uns alle in seinem stilvollen Heim zu empfangen. Aber leider war er verreist.
»Ganz wichtiger Mann in der Europapolitik«, sagte Frau Tasselhoff.
»Und Bankier«, sagte Herr Tasselhoff. »Spielt Golf mit unglaublichem Handicap.«
»Ist er schwerbehindert?«, fragte ich.
Matthias prustete in seinen Tee.
Papa unterdrückte einen Hustenanfall.
Frau Tasselhoff musterte mich nachsichtig. »Am Handicap misst man die Fähigkeiten des Golfspielers. Bis auf die Profis hat praktisch jeder eins.«
»Wahrscheinlich fahren sie deshalb alle mit diesen Elektrowägelchen durch die Gegend«, meinte ich. »Geht auf dem Rasen sicher besser als mit Krücken oder Rollstühlen.«
Matthias kicherte haltlos.
»Matthias, es gehört sich nicht, andere Menschen auszulachen, nur weil sie nichts vom Golfsport verstehen«, sagte Frau Tasselhoff scharf.
»Mama, ich habe gelacht, weil Anna einen Witz gemacht hat«, sagte Matthias.
»Woher willst du das wissen?«, rügte ihn seine Mutter.
»Ja, woher?«, fragte ich. »Vielleicht
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