Zeitgenossen - Gemmas Verwandlung (Bd. 1) (German Edition)
Gesicht nur ein paar Fingerbreit über meinem schwebte. Er hatte unverschämt lange Wimpern. Mein Widerstand erlahmte. Arlington bemerkte es und ließ mich los.
Verärgert stand ich auf. »Also?«, fragte ich.
»Also was?«, erwiderte Arlington, der auch wieder aufgestanden war.
»Wer sind diese Peers und wo finde ich sie?«
Arlington seufzte gelangweilt. »Nun, offen gestanden: Sie sind tot.«
Ich riss überrascht die Augen auf. »Alle?«
»Ja, alle.«
»Aber wie …? Habt Ihr sie getötet?«
Er sah mich kalt an. »Keine weiteren Fragen«, erwiderte er und verließ den Raum.
Arlington hielt Wort. Er brachte mir bei, menschlichem Blut zu widerstehen. Er erklärte mir, dass ich vor allem lernen musste, das Verlangen zu ertragen, das der menschliche Geruch in mir auslösen würde. Er ließ seinen Kammerdiener herein, um das Zimmer aufzuräumen und setzte sich mit mir auf die Bettkante.
Der Diener war ein hageres 50jähriges Männlein, trotzdem brachte mich sein Geruch fast aus der Fassung, als er den Raum betrat. Meine Nasenflügel bebten. Arlington beobachtete mich scharf, bereit, mich jederzeit zurückzuhalten. Doch ich rührte mich nicht. Der Duft war verlockend, aber er benebelte nicht meinen Verstand. Ich saß die ganze Zeit still, während der Diener den Raum aufräumte. Als er das Zimmer wieder verließ, nickte Arlington mir anerkennend zu.
In den nächsten Tagen wurde es einfacher. Der Viscount ließ auch andere Bedienstete in das Zimmer, junge Dienstmädchen und Knechte, und ich lernte, sie keines Blickes zu würdigen.
»Wann kann ich das Zimmer verlassen?«, fragte ich Arlington.
»Morgen«, versprach er. »Und damit es dir leichter fällt, gehen wir heute Abend auf die Jagd.«
Arlington hatte mir seltsamerweise eine Jagd-Tracht für Männer aus moosgrünem Samt und Brokat bringen lassen. Eine Dienerin half mir beim Anziehen der ungewohnten Kleidung. Die engen Beinkleider saßen wie angegossen, ebenso der dazugehörige kurze gefältelte Rock, den ich darüber zog und der leichte, pelzgefütterte Mantel. Der Viscount hatte offenkundig ein gutes Augenmaß für meine Größe.
»Warum trage ich Männer-Kleidung?«, fragte ich ihn, als er das Zimmer betrat und mich beifällig musterte. »Normalerweise mache ich in der üblichen Reitkleidung für Damen auch keine so jämmerliche Figur.«
»Das glaube ich Euch vorbehaltlos, meine Teuerste«, antwortete er mit einem amüsierten Lächeln in seinem Mundwinkel, »aber wir werden heute nicht zu Pferde jagen. Und für unsere Methode ist diese Tracht einfach praktischer.«
Er lächelte belustigt über meinen fragenden Gesichtsausdruck.
Als wir in der Dämmerung das Haus verließen und zu den Stallungen des Viscounts hinübergingen, atmete ich tief ein. Eigentlich waren mir die Gerüche Londons recht vertraut, aber in dieser Intensität hatte ich sie noch nie wahrgenommen. Obwohl die Themse ein gutes Stück weit entfernt war, konnte ich bis hierhin den Geruch der Fischladungen am Hafen wahrnehmen. Ich roch das Bier und den Wein, die in den Tavernen ausgeschenkt wurden, die frischgebackenen Brote der Bäcker, den Mist, den die Pferde auf den Straßen hinterließen, ebenso wie die Duftwässerchen, mit denen die feinen Damen sich beträufelten. Selbst die Lehmwände der vielen Fachwerkhäuser und die Steinmauern der großen Kirchen schienen mit einem ganz charakteristischen Aroma bis in meine Nase vorzudringen. Ich schloss einen kurzen Moment die Lider und genoss die Tatsache, dass ich meine Heimatstadt vor meinem geistigen Auge allein durch die Vielfalt dieser Gerüche materialisieren konnte.
Die Knechte in Arlingtons Stallungen waren mir noch nie begegnet und schienen meinen Aufzug nicht ungewöhnlich zu finden. Nun ja, ich trug mein langes Haar unter dem Hut ebenso wie der Viscount zu einem Zopf gebunden und wahrscheinlich hielten sie mich tatsächlich einfach nur für einen jungen Edelmann, der mit Arlington befreundet war.
Der Viscount hatte von den Stallknechten eine zweispännige Kutsche vorbereiten lassen, in die wir nun einstiegen, und die von ihm selbst geschickt durch das nach wie vor hektische Treiben auf Londons Straßen gelenkt wurde.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich neugierig.
»Nach Richmond Park«, antwortete Arlington.
Richmond Park war ein fast 2.500 Acre großes Waldgebiet im Südwesten Londons, das von der Königin ebenso wie von der Krone nahe stehenden Peers als Jagdgebiet genutzt wurde. Als wir dort ankamen, war es
Weitere Kostenlose Bücher