ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
sich nie einem Fremden. Da können Sie ihr anbieten, was Sie wollen, sie kommt nicht!« Frau Nicolai nahm ihm gegenüber Platz. »Haben Sie Neuigkeiten von meinen Kindern und meinen Enkeln?«
»Wieso Enkeln?«
»Kim und Svenja wurden von zwei Leuten abgeholt, sie sagten, sie seien von der Fürsorge. Doch das kann ich nicht glauben. Ich habe seit fast zwei Wochen nichts von ihnen gehört. Es ist furchtbar, was die mit uns machen«
»Wie alt sind die Kinder?«
»Kim ist im Februar achtzehn geworden, Svenja ist fünfzehn«
»Wissen die Eckernförder, dass die Kinder auch verschleppt wurden?«
»Ich bin nicht sicher, ich glaube nein«
»Das sollten wir bekannt machen! Das stinkt ja zum Himmel!« In diesem Augenblick kam Mara mit zwei, drei Sätzen auf ihn zugesprungen und landete treffsicher auf seinem Schoß. »Mara!«
»Lassen Sie nur, Frau Nicolai«
»Das habe ich ja noch nie erlebt!« Während sich das Tier auf seinem Schoß schnurrend den Rücken streicheln ließ, schenkte Frau Nicolai kopfschüttelnd Tee nach. Nun begann er dem Tier den Kopf zu kraulen, ließ auch die Ohren nicht aus. Mara drückte ihren Schädel an ihn, plötzlich blitzte ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Er erschrak. Was war das?
Wieder blitzte es in seinem Kopf, dann glaubte er, das geöffnete Dritte Auge des Pariser Kristallschädels zu erblicken, die Weltkugel – majestätisch, ruhig, blau – wie ein schimmernder Smaragd. Er schloss die Augen, während seine Finger weiterhin mit den Ohren der Katze spielten. Ihm war nun, als hörte er von fern Trommelschläge, glaubte erst an einen Musikzug, der auf der Straße vorbeizog, aber nein – es war nicht wirklich, es war…
Ein starkes Kribbeln durchfuhr seine Unterarme, vereinte sich in seiner Brust und breitete sich über den ganzen Körper aus. Sonderbar, was geschah mit ihm? Es war, als ob sich etwas seines Geistes bemächtigte und sein Ich zum unbeteiligten Beobachter degradierte.
Die Stimme in seinem Kopf sprach mit schwerem, spanischen Akzent, mit dem so typisch rollendem R: Jens Plätschner, du bist berufen! Das Schicksal der Menschheit ruht in deinen Händen. Coratscha, die den ersten Schädel Corona de Luz bewohnt, befindet sich in deiner Nähe. Du bist dir ihrer bewusst. Überbringe sie dem Maya/Itzá Rat in Mexico-City. Beeile dich! Es bleiben nur vier Tage Zeit! Bringe sie zu uns, umgehend! Nur sie fehlt noch im Kreis der dreizehn Schädel. In La'k'esh mein Freund.
Plätschner wartete, horchte, doch es blieb still in ihm.
»Ist Ihnen nicht gut?« Erschrocken riss er die Augen auf und sah in das besorgte Gesicht von Frau Nicolai. Die Katze sprang von seinem Schoß und verschwand. »Äh, nichts, nein, mir ist bloß etwas eingefallen. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, Frau Nicolai! Ich habe etwas sehr Wichtiges zu tun!« Beinahe fluchtartig verließ er das gemütliche Haus, er war zutiefst verschreckt.
Das Stundengeläut der Borbyer Kirche durchdrang das emsige Treiben auf den Straßen, auch hier versammelten sich überall Menschen. Er sah zur Turmuhr, es war drei. Er beschleunigte seine Schritte, erreichte den Friedhof an dessen Nordost-Eingang und ließ sich an einem Brunnen in der Nähe der bemoosten Steintafeln nieder.
Er brauchte Zeit um seine Gedanken zu sortieren. Wurde er jetzt etwa wahnsinnig? Hatte der Pariser Schädel das bewirkt? Tief in seinem Innern wusste er jedoch die wahre Antwort: Er hatte soeben eine Rolle zugewiesen bekommen, eine bedeutende Rolle! Ihm blieben nur vier Tage Zeit! Aus der Kirche hörte er Orgelspiel, es hörte sich nach einer Bach-Fuge an. Der Kantor musste also da drin sein!
Er probierte die ihm am nächsten gelegene Seitentür aus und hatte Glück; sie war unverschlossen. Langsam ging er Richtung Mittelgang, die Orgel tönte kraftvoll, das Liebesfeld war hier von unglaublicher Energie, fast greifbar präsent! Das Orgelspiel hörte auf. »Sie schon wieder?«, tönte es von oben herab.
»Ja, ich muss Sie unbedingt sprechen, es ist wirklich wichtig«
»Warten Sie! Ich komme runter, einen Augenblick bitte …«
11.06.2020; Donnerstag; 14:00 Uhr/MEZ; Berlin, Mehringer-Haus; Labor
Sie wähnten sich schlau, diese Damen und Herren. Markus erlebte gerade wieder eine seiner gesteuerten Wachphasen. Noch ließ man ihn in Ruhe, so dass er die Gelegenheit zum Denken nutzen konnte.
NHE würde die von ihren Peinigern geforderte Zeremonie abhalten, obwohl er nicht an ein
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