Zeitlos
schlafen, ich bin so aufgewühlt wie noch nie, und will darüber reden, auch wenn ich es nicht verständlich ausdrücken kann. Als ich den Schädel ansah, hatte ich das Gefühl, als fiele mein Bewusstsein, zur Stecknadelkopfgröße geschrumpft, punktförmig ganz tief in meinen Körper hinein, ähnlich wie bei Yoga-Meditationen, nur sehr viel heftiger.
Dabei hatte ich eine Vision: Ich sah das Bild eines feinen Gewebes vor mir, das den kosmischen Schöpfergeist darstellte. Hierin erschienen unsere individuellen Bewusstseine wie kleine Ausstülpungen der Struktur. Sie ähnelten Tintenfischköpfen, die nur durch die Kraft unserer begrenzenden Gedanken, die wir unser Ego nennen, vom übrigen Gewebe abgeschnürt waren. Dieses Bild machte mir augenblicklich klar, dass wir die begrenzenden Gedanken jederzeit aufgeben können und somit vollständig Teil des kosmischen Bewusstseins werden können – jederzeit!
Ich glaube, man kann es mit dem Akasha-Feld der Hindus vergleichen, oder wie wir hier im modernen Westen sagen würden, mit dem kosmischen Universalbewusstsein. Welch gewaltige Kräfte gehen von dem Schädel und von dem Mexikaner aus? So etwas habe ich noch niemals erlebt, das macht mir Angst – und dann noch das merkwürdige Verhalten von Mara, als würde sie mit ihm telepathisch verbunden sein. So etwas gibt es doch nur in skurrilen Filmen, oder? Ich glaube, ich fürchte mich vor Brayasil. Ich möchte mich nicht auf diese verrückte Sache einlassen. Das ist doch geradezu Okkultismus, oder nicht?«
Markus drückte seine Frau fester an sich, sie kuschelte sich noch inniger an. »Diese Dinge sind unserem Kulturkreis fremd. Ich glaube, er ist in seinem Volk das, was man einen Schamanen nennt – ein Mittler zwischen den Welten. Schamanen haben die Fähigkeit, unter Zuhilfenahme bestimmter Drogen, Trommelrhythmen, Gesängen oder Tänzen, Kontakt zur geistigen Welt herzustellen. Ja, vielleicht ist das Okkultismus, ich weiß es auch nicht so genau.
Ich bin mir aber ganz sicher, dass uns morgen, wenn wir mit unseren Freunden zusammen sind, klarer wird, was das Ganze auf sich hat. Brayasil hat es zwar noch nicht angesprochen, aber es hat ganz sicher etwas mit dem Kosmischen Rauschen zu tun. Sicher weiß er darüber mehr als wir alle. Am besten hören wir uns an, was er uns erzählen wird.
Es sind große Dinge im Gange und ich verrate dir bestimmt nichts neues, wenn ich mal ganz salopp fabuliere, dass wir uns gerade in einem weltweiten Prozess globaler Veränderung befinden. Wir haben an der Uni erste Interpretationen zu unseren Messungen formuliert und ich kann dir sagen, es fängt an spannend zu werden! Vielleicht erleben wir gerade das Zusammenwachsen von Wissenschaft und Metaphysik. Das Thema erinnert mich an die jahrhundertealte Suche nach der Weltformel , die voraussagt, dass eines Tages alle unterschiedlichen Forschungsrichtungen, wie Physik, Mathematik, Biologie, Archäologie, Philosophie, Astrologie, Religion und Metaphysik zusammenfinden und eins werden.
Zur Beschreibung dieser Idee wird gern ein Bild bemüht, auf dem mehrere Bergsteigergruppen von verschiedenen Seiten denselben Berg besteigen, um auf dem Gipfel schließlich zusammenzutreffen – jeder auf seinem Weg, aber am Ende dasselbe Ziel erreichend.
***
Markus hatte den Ablauf des Abends mit Birte gemeinsam geplant. Die Freunde wussten, dass sie in ihrer Mitte heute einen besonderen Gast aus Mexiko kennen lernen würden, der ausdrücklich um diese Zusammenkunft gebeten hatte. Um sich ein wenig bekannt zu machen wurde ein leichter Cocktail serviert, den sie stehend einnahmen, danach gab es zur Stärkung eine Sopa de verduras nach einem internationalen Rezept, eine ziemlich scharfe Gemüsesuppe also. Nachdem die Teller abgeräumt waren, saßen sie alle sechs gespannt um den Esstisch herum und warteten, dass der fremde Gast das Wort ergriff.
Markus hatte Brayasil auf dessen Wunsch hin, den Platz an der Kopfseite des zwölf Personen fassenden ovalen Tisches zugewiesen. Schräg hinter ihm stand der Aluminiumkoffer mit Corona de Luz auf dem antiken Stehpult, das normalerweise als Dekoration im Flur stand. Schweigend und erwartungsvoll blickten die Freunde auf den Gast. Markus räusperte sich, stand auf, stellte Don Rodriguéz Brayasil förmlich und offiziell mit seinem vollen Namen vor und beschrieb den Tag ihres Kennenlernens im Flieger von New York nach Paris. Dabei erwähnte er natürlich seine Recherchen zum Thema Silizium und davon,
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