Zeitoun (German Edition)
starrte sie auf die Straße und dachte an gar nichts. Der Tag würde lang werden, eine pausenlose Hektik, bis die Kinder im Bett waren, daher gönnte sie sich diesen einen Luxus, eine ununterbrochene dreißigminütige Phase der Klarheit und Ruhe.
Am anderen Ende der Stadt traf Zeitoun auf der ersten Baustelle des Tages ein. Er liebte dieses Haus, eine stattliche alte Villa im Garden District. Er hatte zwei seiner Männer hier eingeteilt und schaute vorbei, um sich zu vergewissern, dass sie auch da waren, dass sie arbeiteten, dass sie alles hatten, was sie brauchten. Er sprang die Eingangsstufen hoch und betrat das Haus. Es war gut und gerne hundertzwanzig Jahre alt.
Er sah Emil, einen Anstreicher und Schreiner aus Nicaragua, in einem Türrahmen auf dem Boden knien und eine Fußleiste abschlagen. Zeitoun schlich sich von hinten an ihn heran und packte ihn bei den Schultern.
Emil fuhr zusammen.
Zeitoun lachte.
Er wusste selbst nicht, warum er so etwas machte. Es war schwer zu erklären – manchmal war er einfach in der Stimmung. Die Mitarbeiter, die ihn gut kannten, überraschte das nicht, wohingegen Neulinge häufig erschrocken reagierten und sein Verhalten für eine ziemlich abgedrehte Motivationsmethode hielten.
Emil rang sich ein Lächeln ab.
Im Esszimmer war Marco, der aus El Salvador stammte, damit beschäftigt, Feinputz auf die Wände aufzutragen. Marco und Emil hatten sich in der Kirche kennengelernt und als Anstreicherteam auf Arbeitssuche gemacht. Sie waren auf einer von Zeitouns Baustellen aufgetaucht, und weil Zeitoun fast immer mehr Arbeit hatte, als er bewältigen konnte, hatte er sie eingestellt. Das war vor drei Jahren gewesen, und seitdem arbeiteten die beiden für ihn.
Abgesehen von einigen Einheimischen aus New Orleans beschäftigte Zeitoun Männer aus aller Welt: Peru, Mexiko, Bulgarien, Polen, Brasilien, Honduras, Algerien. Er hatte mit fast allen gute Erfahrungen gemacht, wenngleich die Personalfluktuation in seinem Betrieb überdurchschnittlich hoch war. Viele Leute suchten vorübergehend Arbeit, weil sie nur ein paar Monate im Land bleiben wollten, ehe sie zu ihren Familien zurückkehrten. Solche Leute nahm er gern, und er hatte durch sie schon eine ganze Menge Spanisch gelernt, aber er musste immer auf ihr kurzfristiges Verschwinden gefasst sein. Andere Mitarbeiter waren schlicht so, wie junge Männer nun mal sind: verantwortungslos und ohne Sinn für die Konsequenzen. Er nahm ihnen das nicht übel – er war selbst auch mal jung und ungebunden gewesen –, aber er versuchte stets, ihnen verständlich zu machen, dass sie mit dieser Art von Arbeit gut leben und eine Familie gründen könnten, wenn sie fleißig waren und ein paar Dollar die Woche sparten. Doch er traf in dieser Branche nur selten einen jungen Mann, der an die Zukunft dachte. Schon allein dafür zu sorgen, dass sie zu essen und Kleidung hatten, sie ausfindig zu machen, wenn sie zu spät kamen oder gar nicht erschienen – das alles war ermüdend und bisweilen entmutigend. Er hatte mitunter das Gefühl, nicht vier Kinder zu haben, sondern Dutzende, die meisten von ihnen mit farbverschmierten Händen und Schnurrbärten.
Sein Handy klingelte. Er blickte aufs Display und ging ran.
»Ahmad, wie geht’s dir?«, fragte Zeitoun auf Arabisch.
Ahmad war Zeitouns älterer Bruder und bester Freund. Er rief aus Spanien an, wo er mit seiner Frau und den zwei Kindern lebte, die beide auf die weiterführende Schule gingen. Es war spät dort, wo Ahmad war, daher fürchtete Zeitoun eine schlimme Nachricht.
»Was gibt’s?«, fragte Zeitoun.
»Ich seh mir gerade diesen Sturm an«, sagte er.
»Du hast mir Angst eingejagt.«
»Du solltest auch Angst haben«, sagte Ahmad. »Diesmal könnte es ernst werden.«
Zeitoun war skeptisch, hörte aber zu. Ahmad war Schiffskapitän, seit dreißig Jahren steuerte er Tanker und Kreuzfahrtschiffe auf jedem erdenklichen Gewässer, und er kannte sich bestens mit Stürmen aus, mit ihren Zugbahnen und ihrer Kraft. Als junger Mann hatte Zeitoun ihn auf zahlreichen Fahrten begleitet. Der neun Jahre ältere Ahmad hatte ihn als Besatzungsmitglied an Bord geholt und ihn mit nach Griechenland, in den Libanon, nach Südafrika genommen. Danach hatte Zeitoun auch ohne Ahmad auf Schiffen angeheuert und war zehn Jahre lang fast um die ganze Welt gefahren, bis er schließlich in New Orleans landete, wo sein Leben mit Kathy begann.
Ahmad schnalzte mit der Zunge. »Er scheint wirklich ungewöhnlich zu sein. Groß
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