Zeitspringer
Menschheitsgeschichte sei gesprenkelt von Zeitreisenden, nicht nur die Zeit zwischen 1979 und 2106. Schön. Aber solche Fakten trugen wenig dazu bei, Quellens augenblickliche Probleme zu lösen, so sehr das Sammeln auch Broggs Geschmack an Gelehrsamkeit entgegengekommen sein mochte. Quellen legte die Spule weg.
Er wählte Judiths Nummer. Ihr Gesicht erschien auf dem Bildschirm, bleich, düster, streng. Zur Schönheit fehlte ihr ziemlich viel. Ihr Nasenrücken war zu hoch, ihre Stirn zu gewölbt, ihre Lippen waren dünn, ihr Kinn lang. Ihre Augen standen beunruhigend weit auseinander, das rechte ein wenig höher als das linke. Trotzdem war sie nicht reizlos. Quellen hatte mit der Verlockung gespielt, zuzulassen, daß er sich in sie verliebte. Aber das war mißlich; er durfte sie nicht zu nah an sich heranlassen, ohne ihr von der Wohnung in Afrika zu erzählen, und er wollte nicht, daß sie das erfuhr. Sie hatte einen Zug von Pharisäertum; sie mochte ihn verraten.
»Hast du dich vor mir versteckt, Joe?« fragte sie.
»Ich hatte viel zu tun. Ertrinke in Arbeit. Entschuldige, Judith.«
»Laß dich von deinem Schuldbewußtsein nicht aus der Ruhe bringen. Ich bin ganz gut ausgekommen.«
»Davon bin ich überzeugt. Was macht dein Freudel?«
»Doktor Galuber? Es geht ihm gut. Er möchte dich gern kennenlernen.«
Quellen reagierte störrisch.
»Ich habe nicht die Absicht, mich in Therapie zu begeben, Judith. Tut mir leid.«
»Das ist innerhalb von drei Sätzen schon das zweitemal, daß du dich entschuldigst.«
»Tut mir l –« begann Quellen, und sie lachten beide.
»Ich meinte, du sollst Doktor Galuber privat kennenlernen«, erklärte Judith. »Er wird bei unserer nächsten Kommunion dabeisein.«
»Wann?«
»Heute abend schon. Kommst du?«
»Du weißt, daß Gemeinschaftsbrechen mir nie sonderlich gefallen hat, Judith.«
Sie lächelte kühl.
»Das weiß ich. Aber es wird Zeit, daß du ein bißchen unter die Leute kommst. Du vergräbst dich zu sehr, Joe. Wenn du Junggeselle bleiben willst, ist das deine Sache, aber Einsiedler brauchst du nicht auch noch zu werden.«
»Ich kann eine Münze in den Schlitz einer Freudelmaschine stecken und einen Rat bekommen, der genauso tiefgründig ist.«
»Mag sein. Kommst du nun zur Kommunion?«
Quellen dachte an den Fall, den er erst vor ungefähr einer Stunde zur Kenntnis genommen hatte, von dem ernsthaften Kommunikanten, der pseudolebendes Glas in die Verdauungskanäle seiner Mitgläubigen praktiziert und zugesehen hatte, wie sie qualvoll gestorben waren. Er stellte sich vor, wie er sich in Qualen wand, während eine weinende Judith sich an ihn klammerte und in der Art ihrer Sekte das letzte Quentchen Leid aus seiner Todesqual zu ziehen suchte.
Er seufzte. Sie hatte recht. Er lebte in der letzten Zeit wirklich viel zu zurückgezogen. Er mußte hinaus, weg von seinen Amtspflichten.
»Ja«, sagte er. »Ja, Judith, ich komme zur Kommunion. Freust du dich?«
9
Stanley Brogg hatte einen anstrengenden Tag hinter sich.
Der UnterSek jonglierte mit einer ganzen Anzahl von Kartoffeln, die er für Quellen aus dem Feuer geholt hatte, gleichzeitig. Insgeheim war er der Meinung, daß er und Spanner das ganze Amt in Gang hielten. Sie waren vom gleichen Schlag, beide breitgebaut, massiv und methodisch, mit einer Reserve an Gewicht, um in Krisenzeiten zusätzliche Energie zur Verfügung zu haben. Natürlich war Spanner hoher Verwaltungsmann und Brogg ein kleiner Außendienstler. Spanner war Stufe Sechs, Brogg Stufe Neun. Trotzdem sah Brogg sich als Spanners Waffengefährten.
Die beiden anderen, Koll und Quellen – sie waren überflüssige Auswüchse. Koll war voller Haß und Bösartigkeit, vor Wut kochend nur deshalb, weil er klein und häßlich war. Er besaß zwar Fähigkeiten, aber seine im Grunde neurotische Haltung machte ihn gefährlich und nutzlos. Wenn es je einen Fall zwanghaften Freudelns gegeben hatte, dann war es Koll. Brogg verglich ihn oft mit Tiberius Cäsar: ein finsterer Mann voll Bedrohlichkeit, nicht wahnsinnig, aber stark aus dem Gleichgewicht. Man mied ihn besser.
Wenn Koll Kaiser Tiberius war, dann Quellen Claudius; freundlich, intelligent, schwach bis ins Innere. Brogg verabscheute seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Quellen erschien ihm als tatterig, ungeeignet für seinen Posten. Ab und zu konnte Quellen kraftvoll und entschlossen handeln, aber Natur war ihm das nicht. Brogg arbeitete Quellen schon seit Jahren zu, sonst wäre das Amt längst
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