Zementfasern - Roman
Jungen.
Mimi Orlando war das Mädchen, das seine Tage fern von allen anderen zubrachte, verächtlich und erhaben, obwohl sie die Tochter von Tagelöhnern war, das Mädchen, das lange Kleider, Kleider wie Tuniken trug, aus dem Musselin irgendeiner Aussteuer zusammengeschneidert, und das immer in Selbstgespräche versunken war.
»Das Mädchen hat ’ne Menge Phantasie, ist nichts normal an ihr und spricht immerfort mit sich selbst, entweder ist sie verrückt oder sie hat den Teufel im Leib.« Das sagte man über sie.
In ihrem kurzen Leben hatte Mimi sich nur ein einziges Mal ganz und gar verstanden gefühlt: Der Mann war kräftig, sein Gesicht rot, Hosen aus weißlichem Flanell, die purpurfarbene Jacke eines Tierbändigers, ein weißes Taschentuch und ein Strohhut. Er stand in der Sonne vor dem tiefen Loch auf der Piazza, wo die neue Kirche gebaut wurde, und spielte Akkordeon. Seine schmalen Hände waren rosige Spinnen, die Melodienfäden aus dem Instrument zogen, und die verdrehten Augen in faltigen Höhlen suchten bei den Leuten nach ihrer Bereitschaft zu einer Gabe. Als Mimi, sie war damals zehn Jahre alt, an dem Mann vorbeiging, spürte sie, dass ihre Fußsohlen sie drängten, einen Tanzschritt zu versuchen, und so begann sie, allein zu tanzen. Es war Sonntag, die alten Frauen gingen in ihre Mieder aus Samt geschnürt und wagten einen Blick auf den Musikanten, der ganze Ort blieb auf den Bürgersteigen, um den Fremden respektvoll und distanziert zu betrachten. Er war nicht aus Tricase, vielleicht war er nicht einmal Italiener, aber er kannte die musikalischen Romanzen, und ob er die kannte!
Als er zu spielen aufhörte und Mimi aufhörte zu tanzen, gab er ihr einen türkisfarbenen Ring: »Behalt ihn, denn er beschützt dich, in dir trägst du die Tragödie und die Herrlichkeit.« Mimi verstand keines der beiden Worte, sie waren nur zwei unartikulierte, genuschelte Laute – die Musik war so mitreißend und klar gewesen wie die Investitur verworren. Doch von diesem Tag an dachte Mimi, immer wenn sie sich fern von ihren Landsleuten, ihrer Familie und ihren Kameraden fühlte, an die magische Erwählung durch den fremden Musikanten.
Eine alte, seit vielen Jahren verlassene Glashütte war das erste Dach der Orlando in der Schweiz. Denen, die sie entworfen, die sie gebaut und die dort gearbeitet hatten, wäre niemals in den Sinn gekommen, was später aus ihr werden sollte: eine von Menschenleben pulsierende Lunge.
Seit über zwanzig Jahren diente sie als erste Unterkunft der italienischen Emigranten, die keinen Platz zum Schlafen hatten. Sie lag am Ende einer Schotterstraße auf dem Ausläufer eines kleinen Berges wie ein Quader aus abgestoßenen, von großen Rissen durchzogenen Blöcken. Der Boden war mit Glasscherben übersät, noch immer lagen sie bis in die hintersten Winkel der alten Fabrik verstreut. In der einzigen großen Halle ragten Trennwände aus Sperrholz und Wellblech auf, die hohe Decke aus Zinn und Asbest widerstand dem winterlichen Schnee und den langen, unablässigen Regenfällen, die die Nächte begleiteten. Sie widerstand dem Hagel, dem Wind, sie widerstand fast allem, nur der Kälte ergab sie sich augenblicklich. Die Kälte drang ein und setzte sich heimtückisch an den Gegenständen fest. Die Kälte der Dinge war am schwersten zu ertragen. Die Kälte der Betten, der Decken, der Stühle, die Kälte des ersten Schlucks Milch, der hart und bröcklig wie Geröll aus den Bergen die Kehle hinunterrann.
Doch es waren dies die Jahre des Glases, weil das Privatleben der Menschen, die um Mimis Dasein kreisten, zu Glas wurde, weil alles, was sie umgab, aus Glas war. Durchsichtig und ungeschützt, ohne einen Zufluchtsort.
Für Mimi hatte alles den vagen Geschmack eines Abenteuers, das sich um sie herum ereignete. Während der Fahrt in der
littorina
hatte sie, umringt von vielen Verwandten, einen Rosenkranz in der Hand gehalten. Aber sie hatte eher nachgedacht als gebetet.
In Bari sah sie sich von den Koffern einer unbekannten Familie bedrängt. Diese Leute, die den Gang in Besitz nahmen, brachten sie mehr als alles andere zum Staunen: Sie ähnelten ihr, wie Schildkröten trugen sie ihr Leben mit sich herum, in riesigen Schachteln und Koffern mit prallen Bäuchen.
Sie waren zu sechst, zwei erwachsene Männer, Brüder vielleicht, eine Frau und drei Kinder. Sie waren mager, fast unterernährt, misstrauisch beäugten sie die Orlando, und dieselbe Empfindung wurde von diesen erwidert. Vor ein paar Jahren
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