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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Kinder Wasser und Salz gab: hartes Brot, im Brunnenwasser aufgeweicht, und Meersalz.
    Wenn es dunkel wurde, versammelten die Orlando sich um den Tisch und verharrten dort schweigend mit wachsamen Blicken; die Stimmen der anderen Ecken Italiens fielen vom Himmel, in dem großen, offenen Raum, wo es von Menschen wimmelte, erlaubten die Wände aus Blech und Sperrholz nur schamhafte Zurückhaltung, sonst nichts. Durch die Stille drangen Sätze in unbekannten Dialekten, manchmal ein verständliches Wort oder Bemerkungen von den Leuten aus Lecce, ihren Nachbarn. Die Familie Orlando wechselte Blicke des Einverständnisses, des Zusammenhalts und der Zustimmung. So waren ihre Abende, eine Bemerkung mit leiser Stimme, ein Flüstern, und dann auffangen, was in den anderen »Wohnungen« erzählt wurde: ein Drangsalieren am Förderband der Fabrik, ein Missverständnis im Lebensmittelgeschäft, eine Drogerie, die geschlossen hatte, neue Italiener, die ankamen, eine Gruppe italienischer Jungen, die man aus einer Schänke geworfen hatte, weil sie mit lauter Stimme gesprochen hatten. Wegen dieser Neigung zum Schweigen, und weil sie Fremden wenig Vertrauen entgegenbrachten, wurden die Orlando die »scurnusi« genannt, die Schamhaften.
    Manchmal tauchte von wer weiß woher eine Korbflasche Wein auf. Ein Glaskolben ohne Korb, in dem ein roter Trester aufbewahrt wurde, der die Innenwände schwärzte, als wäre Tinte daran geschwappt. Wenn er den Wein getrunken hatte, der so dickflüssig war wie die Weine der Römer, stand Antonio Orlando auf und nahm Rosanna beiseite, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Alles verstummte, die Augen der Kinder richteten sich auf die Eltern, während deren Blicke umherschweiften, um unsichtbaren Bewegungen von Nachtfaltern zu folgen, den Flattergeistern der Diskretion.
    Im schwachen Licht der brummenden Glühbirnen drückte Mimis Vater mit geröteten Wangen Rosanna an seine Brust und küsste sie, später in der Nacht hatte Mimi nicht den warmen Körper der Mama im Bett, sondern den nervösen, zappeligen von Biagino.
    Alle schliefen, Mimi nicht, sie lauschte dem keuchenden Atem des Vaters, und in einem unbekannten Winkel ihrer Seele spürte sie ein unerklärliches Missbehagen.
    Governos Prophezeiungen hatten sich nicht erfüllt, aus den wenigen Tagen Behelfsunterkunft waren Monate geworden. Eingemummelt in Hosen aus Barchent und einen langen Wollpullover, die Hände hinter dem leicht angelehnten Rücken, nur um eine Pose einzunehmen, beobachtete Mimi die von der Fabrik zurückkehrenden Jungen und wartete darauf, dass sie von ihrer ersten unerwiderten Liebe erblickt wurde. In diesem Aufmarsch der Männer, deren Gesichter rot und deren Augen immer feucht waren, als hätten sie geweint, war eines Tages auch Governo. Wenn er erschien, standen unvermeidlich Veränderungen bevor: Neue Familien kamen an, oder jemand musste gehen. Wohin, wusste man nicht.
    Viele Monate waren vergangen, und die Orlando hatten es aufgegeben, weiter auf das schimärische Haus aus Holz zu warten, von dem Governo gesprochen hatte.
    Mimis Augen begegneten dem verschlagenen Blick des Mannes. Sie wollte etwas sagen, doch sie senkte den Kopf.
    »Heb die Augen, Mimi, wirst mal ’n schönes Mädchen, wenn du groß bist …«
    Mimi wurde flammendrot und richtete sich auf, als müsste sie strammstehen, doch sie wich diesem zornigen und schamlosen Blick aus.
    »Was ist mit dir, schämst dich wegen dem Kompliment, Mimi? Fang an, dich dran zu gewöhnen, du wirst noch viele kriegen.«
    Governo kam immer näher, während alle anderen schon in die Glasfabrik hineingegangen waren, um sich in ihre kleinen Verschläge zurückzuziehen; der Hintergrund füllte sich mit Stimmengewirr, Governo kam auf sie zu wie ein Raubtier, er war nur noch einen Meter entfernt, und Mimi wusste nicht, ob dieses Gehen nur eine harmlose Geste männlicher Arroganz war oder eine Bedrohung darin lag.
    Governo war wenige Zentimeter von Mimis Gesicht entfernt, der Kopf des Mannes erschien ihr gewaltig, unermesslich groß, ein bitterer Geruch stieg aus seinen Kleidern, Jahre später sollte sie erfahren, dass es der Geruch des Blauasbests war, den Governo sich seit einem Jahrzehnt mit nach Hause nahm. Mimi spürte keine Kraft mehr in den Beinen, als wären sie am Boden festgeschraubt, sie wollte fliehen, doch der Körper gehorchte ihren Wünschen nicht. Governo hob zwei Finger und legte sie unter ihr Kinn, Mimi empfand Abscheu, als sie die schwieligen kalten Finger spürte, sie

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