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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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schloss die Augen und hörte die leise gesprochenen Worte Governos in der Luft: »Und ganz schön stark bist du auch, alle laufen weg, wenn ich näherkomme … so hässlich bin ich doch gar nicht … wirst auch eine mutige Frau sein, wenn du erwachsen bist.«

Ein Mann allein war auf dem Steg, darunter brodelte der Zement und ließ graue Wolken aufsteigen. Der Mann ging mit großen Schritten durch den Vorhang aus Kondenswasser und Asbest auf die Güsse zu. Einmal im Jahr flog jemand vom Steg und endete im Blauasbest. Es war ein kurzer Weg, aber gefährlich wie kaum etwas anderes. Der Mann, der dort oben lief, zeichnete jeden Tag mit der Schaufel wirbelnde Kreise in die Luft, und er riskierte viel, aber er wusste, dass das Risiko ihn vor der größten Gefahr schützen würde: der Gewöhnung. Für einen Mann, der immer auf schmalem Grat geht, gibt es keinen ärgeren Feind als die Gewöhnung.
    In der Abteilung wurden Rohre und wellenförmige Platten aus Asbestzement hergestellt. Die Decke der Fabrikhalle war hoch, damit der Rauch sich verziehen oder wenigstens den Anschein geben konnte, er verzöge sich. Dutzende Wannen umringten den Querbau, wo die Arbeiter einer hinter dem anderen standen und einen Reigen aus gleichförmigen Bewegungen bildeten. Harken, wässern, sieben, trennen und das Material zu Haufen zusammenschieben, die geformt werden konnten.
    In jeder Abteilung gab es eine andere Sorte Asbest, jeder Arbeiter der Fabrik sah sich seinem eigenen Freund-Feind gegenüber, und sie hatten so komplizierte Namen wie Chrysotil, Amosit oder Krokydolith. Letzterer, auch als Blauasbest bekannt, war der gefährlichste. Er wurde bei Mischungen verwendet. Ihn hatten alle in dieser Halle wenigstens einen Augenblick lang eingeatmet und sich vom Arbeitskittel geklopft.
    Der Mann, der auf dem Rand der Wannen ging und sich um die Mischung kümmerte, hieß Ippazio. Er ließ Zement und Asbest in die Wasserwannen rinnen, dort wurde das Material bei höllischen Hitzegraden unter der Aufsicht eines höchsten Regelsystems gemischt, eines Regelsystems mit einem überzeugenden Namen: Ippazio, der Name eines Gottes.
    Ippazio war der Schutzpatron von Tiggiano, einem kleinen Ort aus goldbraunen Gehöften, ein Heiliger, dem der Schutz vor Leistenbruch und die Fruchtbarkeit der männlichen Hoden oblag, darum brachten ihm die Frauen der umliegenden Ortschaften die Unterhosen ihrer Männer als Weihegabe.
    Dort oben – doch es konnte auch die Unterwelt sein, wegen der Hitze, des Qualms, des Gestanks aus den Eingeweiden der Erde – schien Ippazio eine Art Teig für eine große Focaccia anzurühren. Die Farbe des Teigs aber war hässlich und sein Geruch unerträglich, stechend, er blähte die Nasenlöcher und drang wie unsichtbare Nadeln unter die Haut, fuhr durch die Glieder bis in den Brustkorb, schließlich in die Lunge. Jeweils eine Nadel. Eine nach der anderen, und wie alles Böse sorgsam darauf bedacht, langsam, unkenntlich und unabwendbar zu sein.
    Am Ende des Tages glich die Nase einem Mangoldblatt, die Blutgefäße platzten. Draußen in der Kälte verstopfte sie im Wind, und Ippazio, der Gott der Unterwelt, bedeckte seine Nase mindestens eine Stunde lang mit beiden Händen, als wäre sie gebrochen. Er schnaubte die Luft, die er in der Brust hatte, in ein Baumwolltaschentuch, um den Stoff zu wärmen und seine Nase darin einzuhüllen.
    Dort oben strich Ippazio die Mischung, die so dickflüssig war wie eine Paste, jeden Tag auf Leinentücher, um das Wasser herauszufiltern, dann wurde die Masse in Formen gegossen, in denen sie zu Röhren und Platten modelliert wurde. Wenn er den Zement in die Gussformen gegeben hatte, fing Ippazio meistens an zu husten, ein Husten, der ihm in den ersten Monaten nur trocken aus der Kehle kam, mit der Zeit aber heiser wurde, seine Bronchien waren ständig voller Schleim.
    »Lat-te, lat-te, trinken latte«, schrie eine Stimme mit teutonischer Färbung, die sich bemühte, den Klang des Italienischen wiederzugeben, um dann wieder Befehle auf Deutsch zu erteilen. Ippazios Vorarbeiter war Österreicher, ein Mann aus den Bergen, der vor ein paar Jahren begonnen hatte, in der deutschen Schweiz zu arbeiten, und in eine Fabrik geraten war, wo er eine Gruppe Italiener anführen musste, die seine Sprache nicht verstanden. Vielleicht war Signor Thaur, wie er genannt werden wollte, nein, vielmehr Herr Thaur, sogar der Verstörteste an diesem Ort, gefangen im Netz dieser dunklen Spinnen, der Süditaliener, von denen er nur

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