Zementfasern - Roman
hatte die Cholera in Bari gewütet, und Mama Rosanna ermahnte Mimi, sich von den Fremden unbedingt fernzuhalten.
Die Reise war ihr wie ein Fest erschienen, ein Weihnachten entlang einer mit Eisen beschlagenen Strecke: Alle waren da, Mutter Rosanna, Vater Antonio, ihr Bruder Biagino, die Tante, die Cousins. Die Körbe wurden aufgemacht, und sie aßen das weiche, feine Brot, über das die kleinen gelben sonnengetrockneten Tomaten gerieben wurden. Biagino, zehn Jahre aus Trotzanfällen und wütendem Geschrei, rannte durch die Gänge des Zuges und versetzte die nach Kerosin stinkenden Abteile in Aufruhr.
Im Bahnhof von Zürich angekommen, dachte Mimi, dass sie noch nie zuvor in einem so großen Gebäude gewesen war, und noch viele Jahre später sollte sie sich daran erinnern, dass sie sich damals gefragt hatte: »Was machen wir jetzt?«, worauf ihr einer geantwortet hatte: »Dafür gibt’s Governo, der hilft.« Es war wie ein Wunder, als hätte man ihre Gedanken gelesen.
Die Luft roch nach Eisen und Rauch, ein Strom Männer und Frauen schob Wagen voller Gepäck, und er schien die Mauer aus Menschen, die an den Gleisen wartete, zum Einsturz bringen zu müssen. Und wieder meinte Mimi, ein Wunder zu erleben, als der durch die schmalen Bahnsteige zusammengedrängte und zu langsamen Schritten gezwungene Strom der Reisenden sich in der Menschenmauer verlor, von der auch die Orlando verschluckt wurden wie von Nebel.
Onkel Peppe erwartete sie. Der Onkel war seit dem Vormonat da und hatte einen Platz zum Wohnen gefunden, wo man sehr wenig zahlte: »Ein Palast ist es nicht, aber man kann anständig leben.«
»Aus Lecce seid ihr?« Spöttisch, in entstelltem Dialekt ausgesprochen, war dies der erste italienische Satz, den die Orlando zu ihrer Begrüßung hörten, als sie im Haus aus Glas ankamen.
»Ihr habt Glück, ihr werdet nur wenige Nächte in diesem Haus bleiben, ich habe ein ganzes Jahr hier gelebt und war fast immer allein«, sagte ein Mann mit einem Gesicht voller Falten, einem einzigen Zahn, der ihm vorne im Mund baumelte, und einem Besatz fettiger grauer Haare.
Governo – er war Lukaner – regelte die Neuankünfte und zweigte einen Teil der Mietzahlungen für sich ab.
Er beschrieb den mit weit aufgerissenen Augen lauschenden Orlando ihr erstes Heim jenseits der rosaroten Alpen, die sie hinter sich gelassen hatten. Es war Ende Oktober, aber schon jetzt herrschte eine Kälte wie im tiefsten Winter, die Schals aus rauer Wolle genügten nicht, und auch die Hoffnung, weniger arm zu werden, war zerbrechlich geworden wie Glas.
Woran erinnerte sich Mimi, wenn sie an jenen ersten Morgen weit weg vom Meer dachte?
Ihre Füße rutschten in den Überschuhen aus Plastik, die Gummisohlen knirschten auf dem unebenen Boden der alten Fabrik; das Knirschen unter ihren Füßen war der erste Eindruck von diesem Haus. Die Feldbetten, hintereinander aufgestellt, bildeten mit ihren geraden Linien ein exaktes Quadrat, Trennwände markierten die kleinen Zellen und schufen viele kleine Zimmer, in denen viele andere Domenicas und Orlandos ihr neues Leben beginnen würden.
Die Ecke, wo die Familie Orlando unterkam, war für Leute aus Lecce bestimmt. Davon gab es gut zwanzig, mindestens drei andere Familien, und sie kamen alle aus dem Capu, dem Salento, aus Orten wie Corsano, Acquarica, Salve oder Presicce.
Die große Halle des Hauses aus Glas war nach einer strikten geographischen Ordnung unterteilt: Sizilianer, Kampanier, Sarden, Lukaner und Apulier. Ein verzerrtes Abbild des italienischen Stiefels.
Die Kalabresen gehörten nicht mehr dazu, eines Nachts hatten sie Stühle verbrannt, um sich zu wärmen, und den ganzen Raum mit Flammen und Rauch erfüllt. Viele bekamen eine Rauchvergiftung, die Frauen löschten den kleinen Brand, indem sie mit Decken auf die Flammen schlugen und Schüsseln mit Regenwasser auf dem Boden ausgossen. Die Spitze des Stiefels sollte geräumt werden. Governo hatte entschieden, dass all ihre Landsleute für die Schuld der drei verantwortungslosen Kalabresen zahlen mussten. Vielleicht hieß er darum Governo, »Regierung«, vielleicht aber auch, weil er der erste Italiener gewesen war, der mit dem gearbeitet hatte, was sie dort »Ternitti« nannten.
Ternitti war eine entstellte Form des Wortes Eternit, Ternitti wurden auch die Fabriken genannt, wo man mit Asbestzement zu tun hatte; schließlich war Ternitti im Salento das Synonym für Dach, Ziegel, Zement und den Großteil des Materials, das auf Baustellen
Weitere Kostenlose Bücher