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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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stammte.
    Arianna ging gerne in den Verein: Die Gruppe Gleichaltriger war voller Unternehmungslust, und in den Zeiten, in denen die Universität in Rom weit weg war, gab es nichts, was anregender gewesen wäre.
    Oft ging sie mit Federico hin, doch an jenem Abend arbeitete er in der Bar. Sie hatten sich mit der Hitze eines unbekümmerten, verliebten jungen Paares geküsst, sie hatten tagelang gestritten, bis Arianna irgendwann geschrien hatte: »Verschwinde aus meinem Leben!«
    Die Spannungen hatten sich bei langen, klärenden Sitzungen gelegt, nach Süden, zu den ionischen Küsten hingewandt, den Sonnenuntergang im Rücken, und es schien, als hätten die beiden wieder Frieden geschlossen. An jenem Abend war er in Schwarz gekleidet, mit einer Schürze, sie trug einen Damenanzug, graue Hose und eine weiße Bluse, wie eine Hostess sah sie aus, in eine verführerische Strenge gehüllt, das lag an ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, die in jenem August die Farbe von Kürbis hatten, und am leichten, sorgfältigen Make-up.
    Sie hatte ihr Studium noch nicht abgeschlossen, doch manche nannten sie schon Dottoressa. Vielleicht hatte man ihr darum im Verein die Aufgabe übertragen, mit den Behörden zu verhandeln. Wenn bei der Polizei oder bei einem Stadtrat eine Erlaubnis eingeholt werden musste, landeten die Probleme bei Arianna, die mit ihrem Auftreten als Studierte und zukünftige Ärztin Verwicklungen klären musste, indem sie die Waffen der Diplomatie und guter Umgangsformen einsetzte.
    Das Problem von Gagliano hieß: »Baum des Emigranten«, eine Kastanie, die in einem der vielen hinter weißen Mauern versteckten Innenhöfe aufragte. Unter diesem Baum hatte ein Mann, der vor vielen Jahren ausgewandert war, eine Truhe mit seiner gesamten Habe zurückgelassen, die im Notfall zur Unterstützung seiner Familie dienen sollte. Kein Verwandter wusste von der Truhe, weil der Emigrant niemals am Ziel ankam. Es war der 2. August 1980, und sein Zug befand sich am falschesten Ort, den die Geschichte hatte ersinnen können: dem Bahnhof von Bologna, dem Mittelpunkt einer tragischen, von Terroristen ausgelösten Bombenexplosion. Die Truhe wurde erst zehn Jahre später gefunden. Die Geschichte machte die Runde im Ort und wurde zum Symbol der Auswanderungswelle der letzten Generation, jener der Väter, die ihre Familien im Süden zurückließen und mit viel Resignation und Poesie im Herzen aufbrachen.
    Seit zwei Jahren verwandelte der Verein Terra Madre die Kastanie in eine Installation aus Lichtern und Fotografien von früheren Emigranten aus dem Salento. Eine Idee, an der Arianna mitgearbeitet hatte und auf die sie sehr stolz war.
    Der betreffende Innenhof hatte die Form eines Ovals, und sein Eingang lag an der Hauptstraße. Der Besitzer des Hauses erlaubte den jungen Leuten von Terra Madre jedes Jahr, in seinen Hof zu kommen, um die Kastanie mit den Lichterketten und Fotos zu schmücken.
    Doch in jenem Jahr hatte er das Haus an einen Mann vermietet, der sich dem Ritual verweigerte.
    »Kein Baum diesmal, Dottoressa, da gibt es einen Signore, der das nicht will«, erklärte der Polizist, ein kleines Männchen, dessen Uniform mindestens zwei Nummern zu groß war.
    »Aber wir haben einen Umzug mit fünfzig Figuren, die auf der Piazza ankommen.«
    »Wir können einen der Bäume auf dem Corso beleuchten lassen.«
    »Das sind keine Kastanien.«
    »Tut mir leid, Dottoressa, er will nichts davon wissen.« Und mit diesen Worten zeigte das Männlein auf das Haus, ein Gebäude mit verputztem Portikus, über dem ein Mann mit verschränkten Armen aufragte.
    »Wer ist das?«
    »Wir kennen ihn nicht. Einer von hier, aber nicht aus Gagliano, aus irgendeinem Nachbarort. Er bleibt ein paar Wochen, dann kehrt er nach Deutschland zurück. Er kommt von dort, aus Deutschland, Holland, Belgien, egal, jedenfalls einer von uns, der aus dem Norden kommt.«
    »Ich rede mit ihm.«
    »Zwecklos, der Stadtrat hat auch schon mit ihm geredet. Er hört auf niemanden.« Das Männlein schüttelte den Kopf mit der resignierten Miene desjenigen, der alles versucht hat.
    »Aber das ist unser Baum …«, stieß Arianna deprimiert mit gedämpfter Stimme hervor.
    Im Hintergrund rief der Mann mit einer unfreundlichen Handbewegung: »Weg da, husch, husch!« Arianna traute ihren Augen nicht, als sie sah, welch eine Unverschämtheit er sich herausnahm. Jetzt kannte sie kein Halten mehr, ging mit klopfendem Herzen auf das Haus zu. Diese Emigranten, die zurückkehrten, um

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