Zementfasern - Roman
tausende Berner in der Aare, um sich dann bis hinunter ins Tal treiben zu lassen. Das Schwimmen mit der Strömung hatte einen Irren aus Vito gemacht oder vielleicht einen Besessenen. Vito Bruschetta, der wegen seiner tomatenroten Wangen so hieß, versuchte den tollkühnen Biagino vor dem Gespött der betrunkenen Celestinos zu verteidigen.
»Er ist Mimis Bruder, lasst ihn in Ruhe.« Das Wort Mimi durfte nur in dringendsten, nachweisbaren Notfällen gebraucht werden. Mimis Name barg eine zweifache Bedeutung, für die einen war sie eine Exzentrikerin, die ihrem Leben keine klare Ordnung hatte geben können und jetzt das verdiente Unwetter erntete; für die anderen war Mimi das Synonym von Freiheit, das magische Wort, in dem sich in jedem Provinznest dieser Welt die Idee einer Möglichkeit konkretisiert: in der eigenen Gegend leben, dort leben, wo man geboren wurde, intensiv leben, mit der Gewissheit, immer man selbst zu bleiben. Denn die Herzen und Köpfe in tausenden Vororten sind voll von Mimi, aber nur wenige sind stolz darauf, gehen erhobenen Hauptes, die Augen an den Horizont geheftet.
Vito Bruschetta, der den Stempel des Verrückten trug, wie viele unter solchen Umständen, war zuinnerst überzeugt, dass Mimi das Sesam-öffne-dich für die Freundlichkeit war, doch auch ein Balsam für den grausamen Wahnsinn, der sich an Biagio austobte. Vito Bruschetta, der vor langer Zeit einmal erlebt hatte, dass Mimi ihn bei den Klippen von Tricase Porto aus dem Meer zog, so wie ihn die Akrobaten vom Flussufer jedes Mal aus der Aare zogen, rührte der Gleichmut ihres Bruders.
»Die Mimi, die Schwester von Celestino, war mit einem zusammen, der ist so alt wie ihre Tochter.«
»Du bist zu alt für Mimma Orlando, Bruschetta, die will frisches Fleisch …«
Von ununterscheidbaren Stimmen ausgestoßen, hallten widerliche Anklagen durch die Sakristei.
Celestino hörte einen mächtigen dumpfen Aufprall, erkannte aber erleichtert und ungläubig, dass er nicht ihn betraf. Bruschetta sprach nicht mehr, da ließ Celestino, obwohl Don Oronzo gerade einen Responsorialpsalm anstimmte, die Glocken läuten, roter Knopf ohne blauen Knopf. Als einige Gläubige, aufgeschreckt von diesem grundlosen Geläute, in die Sakristei kamen, fanden sie Vito Bruschetta bewusstlos am Boden zwischen Glassplittern, den Kopf voll Blut, das hervorsprudelte wie aus dem Riss einer Wasserader.
Der Kopf zerschlagen, aber Mimis Ehre war gerettet.
In Ariannas Leben gibt es eine Episode, die mit roter Tinte umkringelt werden müsste. Es geschah in Gagliano, einem kleinen Ort, der Lucugnano und Tricase von der Landspitze mit Santa Maria di Leuca und seinen herrschaftlichen Villen trennt. Ein Städtchen wie die anderen, mit seinen niedrigen Häusern, dem winzigen Ortskern, den ockergelben Mauern, den Pflastersteinen und engen Winkeln in den Gassen, der Mischung aus neuen Wohnanlagen und den Häusern, die die heimgekehrten Emigranten sich selbst gebaut hatten.
Es war an einem Spätnachmittag mitten im Sommer. An der Kreuzung des Corso waren die ersten Laternen aus Pappe entzündet, sie sollten an die Lampen der Fischer erinnern, die Lichtpunkte, die das nächtliche Meer mit Flammen besticken.
Das Fest des Emigranten war eine bunte Mischung aus Traditionen, wachgerufenen Erinnerungen und Inszenierungen zur Belebung des Tourismus. Es gab eine Bühne, auf die man einen Heuwagen, eine Mühle aus Pappe und einen großen Stoffkoffer gestellt hatte. Den ganzen Abend lang traten dort Sänger auf, die Volkslieder und ein paar erfolgreiche Popsongs sangen. Der beliebteste war
Che sarà
von den Ricchi e Poveri, eine Melodie, die jeder Emigrant auswendig kannte. Auf dem Höhepunkt, der Strophe »Wer weiß, was aus meinem Leben wird. Ich nehme meine Gitarre mit, und wenn ich nachts weine, spiele ich ein trauriges Lied aus meiner Heimat«, würde das Publikum von den Stühlen aufstehen, um sich die Kehle wundzusingen und sich mit einem rhythmischen Applaus zu betäuben.
Es gab auch einige schwache Programmpunkte: »Wenn die Gedichte der Emigranten vorgelesen werden, kommt es zur Massenflucht, fürchte ich.« So die sarkastische Bemerkung eines der jungen Männer von Terra Madre, des kleinen Vereins, der den ganzen Sommer lang für den Ort Feste, Wettbewerbe, Präsentationen, Konzerte und natürlich auch das unvermeidliche Fest des Emigranten organisierte. Die Mitglieder waren alle sehr jung, es gab keinen unter ihnen, der nicht aus einer der emigrierten Familien
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