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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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zog empfindliche Nerven an. Ippazio beichtete. Nach der Nacht, in der Giacomo den Schlafraum gestürmt hatte, war er unsicher, ob Mimi nicht doch Gewalt angetan worden war. Arianna war womöglich nicht das Kind ihrer Liebe, sondern dieser Gewalttat.
    »Ich konnte es nicht ertragen«, stieß Pati kalt hervor, sein Blick hatte sich jetzt in einem weit entfernten Punkt verloren.
    Mimi hätte nicht für möglich gehalten, dass es für die Feigheit noch eine weitere Grenze gab. Jahrelang hatte sie sich in Geduld geübt: Pati war damals erst neunzehn, ein Junge, der noch seine Schwächen hat, doch was er ihr jetzt erzählte, war die Reaktion eines gemeinen Lumpen, nicht die eines Feiglings. Wäre er nicht in Mimi verliebt gewesen, hätte sie ihm verziehen, aber er war es, das hatte sie gespürt, und sie spürte es noch immer, nach Jahrzehnten, dass etwas Heiles von ihrer Liebe geblieben war. Konnte sie einem solchen Mann von den Jahren erzählen, die sie fern von ihm verbracht hatte? Von den Geistern, mit denen sie sprach und die sie viele Male gerettet hatten? Von den Vorfahren, denen sie sich auch in jener verfluchten Nacht anvertraut hatte, in der sie unter einem Bett darauf wartete, der Gefahr entrissen zu werden?
    Als Mimi von der Klippe aufstand, fühlte sie sich am ganzen Körper wund, als hätte sie stundenlang auf Knien gelegen, ihre Muskeln waren verhärtet, der Kiefer zusammengepresst wegen des schockierenden Geständnisses.
    Ippazio konnte nicht aufhören zu sprechen. Es gab noch ein Stück Geschichte zu erzählen, es mussten noch mehr Streichhölzer angezündet werden. Ein weiteres Geheimnis.
    Mimi war schon weit weg. Er rief nach ihr, aber sie verschwand zwischen den Steinen.
    Ippazio blieb auf den Klippen zurück, doch dieses Mal war es keine Feigheit. Mimi hatte ihn gebeten zu warten, bis sie weggegangen war.
    »Es ist besser, wenn du sie nicht siehst, Ippazio«, hatte sie ihm befohlen, ihn mit seinem richtigen Namen ansprechend.
    Vor Abscheu konnte sie sich nicht einmal mehr vorstellen, wie er jetzt aussah. Sie hätte einen zusammengekrümmten Mann gesehen, Kopf und Blick zu Boden gewandt, einen leichten Krampf in den zuckenden Beinmuskeln, einen Angstschauder. Sie hatte ihn in der Haltung eines Besiegten zurückgelassen. Er hatte nicht die Kraft gehabt zu reagieren.
    Er wollte ihr sagen, dass er Arianna gesehen hatte, als er früher ein einziges Mal zurückgekommen war, ein Kampf war es gewesen, und dass Arianna ihn vor Dutzenden Menschen zurechtgewiesen und gedemütigt hatte. Das war vor Jahren passiert, als er ein Haus mit einem großen Kastanienbaum im Zentrum von Gagliano del Capo gemietet hatte, und sie, Mimis Tochter, war gekommen und hatte ihn mit Blicken, mit einer ironischen Miene gedemütigt. Er wollte Mimi von diesem letzten Zufall erzählen. Aber Mimi war schon fortgegangen, sie hatte ihren Mann hinter sich gelassen, das Zögern, den bitteren Geschmack der Gemeinheit.
    »Ich verdiene euch nicht!«, brüllte er in den Himmel, doch nicht einmal ein Hauch der Stimme kam hervor, die Lippen bewegten sich geräuschlos.
    Arianna und Biagio saßen in der Bar an der Guardiola, sie warteten auf Instruktionen, die Botschaft, die von Mimi gekommen war, hatte die Tochter erstarren lassen: »Wartet auf mich, ich komme allein.«
    Biagio bestellte Wein. Die letzte Flasche hatte einen defekten Korken, der Barmann verschenkte sie. Biagino jubelte.
    Der Pfad, über den Mimi ging, schimmerte hell in der Nacht, als wäre er mit einem leuchtenden Pulver bestäubt. Der sehr hoch stehende Mond warf sein Licht auf die Gipfel der Guardiola.
    »Komm Arianna, wir gehen weg von hier.«
    Das war das Erste, was Mimi beim Ankommen flüsterte, die Tochter saß über ihr Handy gebeugt und schrieb eine SMS.
    »Mama, ich schreibe dir gerade, warum bist du allein?«
    »Weil es besser so ist.«
    Für Arianna war es absolut nicht in Ordnung so, sie spürte den Nachgeschmack einer undeutlichen Schmach im Mund, den ganzen Nachmittag lang hatte sie auf ihren Onkel aufpassen müssen, der sie unablässig anflehte wegzugehen, »meine Schwester kommt sowieso allein zurück«, während Arianna fest daran geglaubt hatte, Mimi würde mit einem Mann wieder auftauchen, den sie sich tausendmal und immer wieder anders vorstellte. Mit jeder Minute hatte sie sich neue Einzelheiten ausgemalt, die Finger, die Füße, der Abstand zwischen den Augen, die Form der Nase. Tausendmal hatte Arianna ihre Arme und Beine gemustert, die anders waren als die

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