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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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geschwommen waren. Sie hatten eine gute Bahn genommen, eine glückliche Strecke, angereichert mit spitzen Schreien und Seufzern. Wütende Schwimmstöße, weil die Luftmatratze im Meer verschollen war, aufreibendes Geschrei wie von Kindern, die zum ersten Mal im Wasser toben. Pati glich einem Irren, die Augen traten ihm aus den Höhlen, übersät mit blauen Flecken und Schürfwunden kam er bei den Klippen aus dem Wasser, weil ihm die Anmut und die Übung fehlten, um am richtigen Stein hochzuklettern. Die Rammsporne des Gesteins hatten ihn zerschnitten wie einen Neuling, der zum ersten Mal von einem Felsenriff aus ins Wasser springt.
    Auf einer Anhöhe trockneten sie sich ab, bei einer Sonne, die größer, zu einem roten Ball vor dem Himmelsvorhang geworden war. Der Sonnenuntergang trug den Tag und alle Gefühle mit sich fort. Als Mimi die Schnitte auf seiner Brust und seinen Armen sah, verspürte sie große Lust, sie zu lecken.
    Noch hatte keiner den anderen nach Liebschaften, nach dem Familienleben gefragt, Ippazio hatte nicht nach Arianna gefragt.
    Sie fanden sich auf dem Saum der Klippe wieder, während es um sie herum zu dunkeln begann und ein weißer Mond langsam seinen Platz einnahm.
    Bei jedem Paar gibt es einen Verhaltenskodex, es sind viele Regeln mit tausend Nuancen. Doch es gibt auch ein Rollenregister, das sich von selbst schreibt, ein Drehbuch, wo die Rollen des Opfers und des Henkers, der Randfigur und des Helden, des Verständnisvollen und des Unverstandenen in einer diagonalen Bahn alltäglicher Verhaltensweisen aufeinanderfolgen. Das Wunder zwischen Pati und Mimi vollzog sich auf dieser Frequenz, an dem abgelegenen Ort, wo Verhaltensweisen äußerlich unergründlich, verrückt oder manchmal sogar idiotisch erscheinen können. Und in diesem unverzichtbaren Recht auf wechselseitige Dummheit verbarg sich ein Wunder. Mimi zog eine Packung Streichhölzer aus der Tasche, die sie in dem kleinen Laden oben auf der Klippe gekauft hatte, wo sie die Luftmatratze aufgeblasen hatten. Sie zog eines heraus und strich es an. Das winzige Licht zeichnete ein neues Gesicht, ein Gesicht, das nur wenige Sekunden andauerte, ein Gesicht voller Furchen und Halbschatten, es war Patis Gesicht, ein Gesicht voller Schwärze. Die Dunkelheit der Augenhöhlen, der Nasenflügel, des Vorsprungs der Oberlippe, die die Krankheit hervortreten ließ. Streichholz für Streichholz entdeckte Mimi Ippazios Gesicht, das gründlich zu betrachten sie nie den Mut gehabt hatte. Sie machte ihm einen Vorschlag.
    »Spielen wir ein Spiel?«
    »Mit den Streichhölzern?«
    »Ja. Ich zünde eins an, und solange es brennt, kann ich dir Fragen stellen, im Dunkeln gibst du mir eine Antwort.«
    »Warum?«
    »Wir sehen uns nicht und sind vielleicht gelassener.«
    »Einverstanden.«
    »Aber unter einer Bedingung, Pati. Wenn du mir eine Frage stellst, dann tust du das rücksichtsvoll.«
    »Versprochen.«
    »Es ist wie das Wahrheitsspiel, aber es ist unser Wahrheitsspiel.«
    Wo Feuer ist, da sind Pati und Mimi.
    »Wann hast du in der Fabrik aufgehört?«
    Vom künstlichen Licht der Streichhölzer beleuchtet, trafen sich ihre Blicke, und Ippazio fing an zu erzählen.
    Einzelheiten aus Erinnerungen kehrten zurück, Abschnitte seiner Geschichte, die sich in verdrängten Gegenden abgelagert hatten und jetzt wie eine alte Aussaat, die endlich ihre Früchte trägt, aufblühten.
    Pati wusste genau, dass man in der Fabrik starb, dass der Zement Gift war, doch mit neunzehn Jahren schläfst du eine Nacht drüber, und am nächsten Tag bist du wieder wie neugeboren. Er war weggegangen, weil er ihn gesehen hatte, einer der vielen möglichen Tode hatte sich in seinen Augen eingeschrieben, der Mann, der in den Zement gefallen war, hieß Giacomo. Und er kam aus Kalabrien.
    Der Kopf eines Streichholzes glühte auf, wurde zu einer Flamme, die sich in eine silberne Wolke verwandelte. »Pati, ich kann nicht glauben, dass du so etwas getan hast«, seufzte Mimi besorgt.
    »Nein, warte, es ist nicht so, wie du glaubst, er war keiner von denen, die in der bewussten Nacht nach dir gesucht haben. Ich habe diesen Jungen nur an dem einen Abend gesehen, an dem er im Zement verschwand, aber im Unterschied zu uns allen ist er in drei Sekunden gestorben, es ist ihm erspart geblieben, sich selbst so verfallen zu sehen. Ich habe diesen Jungen sterben lassen, auf dem Laufsteg, über den wir gingen, gab es eine lose Stelle ohne Bolzen, auf die man unter keinen Umständen treten durfte. Während

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