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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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vergingen.
    Endlose Minuten.
    Es war kein Spaß.
    Das Meer hatte Mimi verschluckt.
    Nein, Mimi tauchte am Kopfende der Matratze wieder auf, konzentrische Kreise wie das Netz einer Tarantel öffneten sich rings um ihr Gesicht, als sie nach Luft schnappte, sie atmete durch den Mund ein, dann tauchte sie wieder unter die Wasseroberfläche.
    Pati merkte nichts davon. Panik ließ ihn erstarren.
    Die Zeit vervielfachte sich, Mimi erschien abermals, während Ippazio zusammengekrümmt vor sich hinweinte.
    »Wieder einmal hast du dich zur anderen Seite weggedreht«, sagte Mimi. Sie atmete durch den Mund und schüttelte ihre nassen Haare, eine Wolke aus kleinsten Wasserteilchen versprühend.
    »Pati, du kannst schwimmen, das weiß ich, aber du hättest mich auf dem Grund des Meeres gelassen.«
    Der Mann blieb stumm, es war ein alter Schock, eine Empfindung nach dem Muster früherer Ereignisse, die im Gedächtnis aufgewühlt worden waren. Da war die Fabrik, da waren die Laufstege über dem Meer aus Zement, da war Herr Thaur mit seinem zur Karikatur gebrochenen Italienisch, der die
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zur Ordnung rief, und da waren die Krokydolithwolken, die zum Himmel aufstiegen, der Teig aus Blauasbest, in den Ippazio sein unsicheres und verzweifeltes Lächeln zeichnete.
    Von all dem ahnte Mimi einen millionsten Teil, aber sie ahnte ihn, und zu erkennen, wie bedeutsam er war, half ihr, ein wenig Mitleid in ihrem Inneren zu finden. Mitleid mit dem vor Angst gelähmten Mann, der sich geweigert hatte, sie zu retten. Doch wie viel Mitleid konnte sie noch aufbringen? War der Vorrat an diesem Gefühl, den sie über jene Jahre hinweg angelegt hatte, groß genug, um ihn in die Tat umzusetzen? Mimi wurde zerrissen zwischen Mitleid und einer unbekannten Wut, es war vielleicht Letztere, die überwog und sie etwas tun ließ, was sie nicht eine Sekunde im Voraus geplant hatte: Sie kippte die Matratze um.
    Wenn es darum geht, einem Kind das Schwimmen beizubringen, lassen manche Eltern den geliebten Sprössling einfach einen Moment lang allein im Wasser. Mimi wurde als kleines Mädchen mit einem dünnen Seil um den Bauch ins Wasser geworfen, so prüften die Eltern Rosanna und Antonio ihre Konstitution und Eignung für das Meer. Nur wenige Kinder versinken wie Steine, in den meisten Fällen kehrt, wenn man jäh den Boden unter den Füßen verliert, unverzüglich jene Fähigkeit zum Schwimmen zurück, die man als unbewusst im mütterlichen Fruchtwasser schwimmender Fötus besaß.
    Es ist nur ein Augenblick, aber genau der Moment muss getroffen werden, in dem das Gedächtnis den idealen Zugang findet, die Verbindung mit der Fähigkeit, die verloren war und sich plötzlich unversehrt wieder einstellt. Eine Fremdsprache, die man als junger Mensch sprach, ein Dialekt, der aus lang vergangener Kindheit zurückkehrt, das Gleichgewicht auf den zwei Rädern eines Fahrrads, auf dem Rücken im Meer liegen, schwimmen.
    Kein Seil war um Ippazios Bauch geschlungen, aber dafür war Mimi da.
    Pati verschwand im Wasser, tauchte stocksteif wieder auf, seine Hände wirbelten über der Oberfläche, erzeugten einen weißlichen Hof, dann begann er, auf das Wasser einzupeitschen, sein Schwerpunkt war nicht ausbalanciert, er kippte kopfüber, sank unter die Oberfläche, kam wieder zum Vorschein, versank jedoch erneut. Die Luftmatratze trieb aufs Meer hinaus, Mimi schrie, aber Pati hörte nichts als in Watte vergrabene Worte, unmöglich, irgendein Geräusch zu unterscheiden. Auf die wattegedämpften Geräusche folgte ein Dröhnen, dann Stille, Wasser war ihm in die Ohren gedrungen, vielleicht auch in die Lungen, doch seine steifen Beine zappelten, an einem sehr weit entfernten Ort seines Gedächtnisses öffnete sich der Zugang zur verlorenen Fähigkeit, er erinnerte sich, dass die Beine beim Schwimmen nicht zappeln dürfen, sondern treten müssen, und er trat, unregelmäßig.
    Aber es ging nicht gut.
    Mimi kam auf ihn zu, war wenige Zentimeter neben ihm: »Spreiz die Beine und schließ sie wieder, nicht so angestrengt, bist doch kein
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, kein kleiner Junge.« Es waren die ersten Worte, die Pati hörte, seit er im Wasser war. Mimi hob ihn hoch, er atmete Sauerstoff, bewegte die Beine, wie ihm gesagt worden war, der Körper blieb unter Wasser, aber der Kopf kam heraus, das Gesicht kam heraus, »Ich lebe«, dachte er. Es dauerte noch einen Augenblick. Dann bemerkte er das Wunder.
    Er schwamm.
    Zwei Stunden waren vergangen, seit Ippazio und Mimi zum ersten Mal zusammen

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