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Zenjanischer Lotus (German Edition)

Zenjanischer Lotus (German Edition)

Titel: Zenjanischer Lotus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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dem Sommerkrieg als verschollen. Branos Schwiegermutter hoffte immer noch, dass ihr letzter Sohn eines Tages zu ihr zurückkehren würde.
    Das grausame Gemetzel, das als Sommerkrieg bekannt wurde, hatte vor mehr als fünfzehn Jahren stattgefunden. Ohne Rücksicht auf Verluste hatten die verfeindeten Parteien ihre Krieger
gegeneinander ins Feld geführt, bis sie fast bis auf den letzten Mann im Staub lagen. Wer nicht in der Schlacht getötet wurde, verblutete hinterher oder erlag den Folgen des Wundbrands.
Überlebende gab es kaum, und die wenigen, die in die nahen Wälder fliehen konnten, waren längst zu ihren Familien zurückgekehrt.
    „Und du bist ein gutes Mädchen“, tätschelte die Greisin die Hand ihrer Tochter. „Aber wenn du weiterhin so schnell Kinder bekommst, wirst du vor deiner Zeit
verblühen.“ Sie deutete auf Sillas gewölbten Leib. „Kinder sind ein Segen, aber sie rauben einer Frau die Kraft.“
    „Was sollen wir tun, wenn die Götter unsere Verbindung segnen?“, erwiderte Brano gedankenlos und senkte peinlich berührt den Blick, als seine Schwiegermutter ihn halb
belustigt, halb streng ansah.
    Nein, er wollte nicht mit ihr über die nächtlichen Gepflogenheiten seiner Ehe sprechen. Zwar war er das Leben in einer engen Behausung und die damit einhergehende Nähe zur Familie
gewohnt, aber die körperliche Liebe zwischen seiner Frau und ihm ging niemanden etwas an.
    Als das letzte Stück Fleisch verzehrt und die Schüssel mit der Süßspeise leer war, ging Brano mit den älteren Kindern nach draußen, damit sie sich wuschen. Der
Nachwuchs spritzte sich gegenseitig nass, während Brano an der Stalltür lehnte und in den Himmel sah.
    Der Abend war klar. Keine Wolke war zu sehen, die das Land vor der schärfsten Kälte schützte. Die Sterne hoben sich deutlich vom dunkelblauen Gewand der Nacht ab. Von dem kleinen
Mond war nur eine schmale Sichel zu erkennen, während der große Mond – der sogenannte Witwenmond – die Baumspitzen der nahen Wälder versilberte.
    Als kleiner Junge hatte Brano an die Geschichten geglaubt, die man sich über den größeren der beiden Himmelskörper erzählte. Kaum fünf Jahre alt war er des Nachts
in den Wald gelaufen, um die Tränen der verwitweten Göttin Adelis zu finden. Es hieß, ihr Schmerz über den Verlust ihres Geliebten wäre so gewaltig, dass ihre Tränen
zu silbernen Münzen wurden, sobald sie den Erdboden erreichten.
    Gefunden hatte er nichts. Bekommen hatte er eine Erkältung und zwei aufgeschlagene Knie, weil er in der Dunkelheit über eine Baumwurzel stürzte. Eine Tracht Prügel von seinem
Vater gab es obendrein.
    Manchmal wünschte Brano sich heute noch, die Legende hätte einen wahren Kern. Er arbeitete hart, aber konnte seine Familie nur knapp ernähren. Seine Schwiegermutter hatte nicht
unrecht. Mehr Kinder konnten sie sich nicht leisten, bevor ihr Ältester nicht groß genug war, um sie tatkräftig auf dem Hof zu unterstützen.
    Traurig. Er hätte dem Jungen mehr Kindheit gegönnt.
    Als Brano die schleifenden Schritte über das leere Kürbisfeld auf sich zukommen hörte, scheuchte er die Kinder ins Haus.
    Angst hatte er ob des nächtlichen Besuchers nicht. Er war ein Mann, an dessen Schulter sowohl Freunde als auch Verwandte gern Trost suchten. Ein Besuch zu später Stunde war nichts
Ungewöhnliches für ihn, aber so manches Thema, mit dem die Leidtragenden zu ihm kamen, war nicht für die Ohren seiner Kleinen bestimmt.
    Krankheit und Tod, Betrug und Ehebruch, Gotteslästerung und besonders den Hass auf das ärmliche Leben wollte er so lange wie möglich von ihnen fernhalten.
    Besorgt sah Brano der Gestalt entgegen, die sich schwerfällig auf ihn zu schleppte. Das helle Mondlicht ließ erkennen, dass der Besucher sich den Oberschenkel hielt. Brano kannte den
Mann nicht. Ein Reisender, der Hilfe brauchte?
    Als der Fremde näher kam und in den Lichtkreis der Fackel trat, sah Brano seinen Verdacht bestätigt.
    Das Gesicht des Mannes war blutverschmiert. Seine leichte Lederkleidung war zerrissen, entblößte an zahlreichen Stellen aufgeschürfte Haut. In seiner freien Hand hielt er die
Überreste zerfetzter Zügel.
    Ein schlechterer Mensch hätte angesichts der Tatsache, dass der Fremde ein Reitpferd sein Eigen nannte, finstere Gedanken gehegt. Ein reicher Mann hatte oftmals mehr Münzen in seinem
Beutel, als eine genügsame Familie in einem Winter zum Überleben brauchte. Doch Brano war kein Halsabschneider. In dem festen Glauben,

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