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Zenjanischer Lotus (German Edition)

Zenjanischer Lotus (German Edition)

Titel: Zenjanischer Lotus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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dass Ikir, der göttliche Richter, jede noch so
kleine Verfehlung sah, hielt er sich an die Gesetze der Menschlichkeit und nahm sich nichts, was ihm nicht zustand.
    „Herr“, rief er halblaut und ging dem Fremden entgegen. „Lasst mich Euch helfen. Ihr nähert Euch einer Eisschicht.“ Die Schweine hatten am Nachmittag ihren Trog
umgeworfen, und das Wasser war auf dem Hof zu einer spiegelnden Fläche erstarrt. „Ihr seht nicht aus, als solltet Ihr ein weiteres Mal zu Boden gehen.“
    Eine Antwort bekam er nicht, aber das halblaute Keuchen vermengt mit einem lang gezogenen Stöhnen alarmierte ihn. Der Mann schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Umso
näher er kam, umso deutlicher wurde, dass er aus einer Vielzahl Wunden blutete.
    „Silla!“, schrie Brano in Richtung Haus. „Wir haben einen Verletzten. Hol den Branntwein und saubere Tücher. Lass Mutter Wasser heißmachen.“
    Mit zwei langen Schritten sprang er über die Eisfläche und trat an den Fremden heran. Vertraulich fasste er ihn an der Schulter und stabilisierte seinen schwankenden Gang: „Kommt
herein. Wir kümmern uns um Euch. Meine Frau ist eine fähige Heilerin.“
    Der Verletzte richtete sich unter der Berührung auf und starrte den Hausherrn an. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Er lallte, als er stockend fragte: „Bist du Brano? Der Brano,
der früher auf der
Falkenfeder
zur See gefahren ist?“
    Überrascht versuchte Brano, das Gesicht des Besuchers unter dem Blut zu erkennen. Handelte es sich bei dem Gast um einen Freund aus alter Zeit, in der er die Meere bereiste?
    „Ja, der bin ich“, gab er neugierig zurück. „Kennen wir uns? Es tut mir leid, Herr. Euer Gesicht ist stark geschwollen. Ihr kommt mir gar nicht bekannt vor.“
    „Wer hat gesagt, dass wir uns kennen?“, lachte der Fremde schaurig auf. Er gurgelte beim Sprechen und dunkle Flüssigkeit benetzte seine Lippen und sein Kinn. „Jemand
anderes kennt dich, und das ist alles, was für mich zählt.“
    Eine geflammte Klinge zischte empor und warf mit gleißender Schneide das fahle Mondlicht zurück in den Himmel. Zwei schnelle Bewegungen – zu schnell für einen Mann, der
sich kaum auf den Beinen halten konnte - und der Dolch färbte sich schwarz.
    Ungläubig spürte Brano seine Knie weich werden. Kälte, die frostiger war als der finsterste Winter, griff nach ihm und hüllte ihn in einen Mantel aus Dunkelheit.
    Silla, die mit einem Korb hilfreicher Utensilien unter dem Arm aus dem Haus kam, sah ihren Ehemann zu Boden gehen. Sie schrie.
    Nicht viel später umklammerte sie ihren eigenen Hals, als wolle sie das Blut, das aus ihrer Kehle sprudelte, zurück in ihren Körper zwingen.
    Es gelang ihr nicht.
    Als Brano den dritten Tag in Folge nicht zur Arbeit erschien, schickte der Hofmeister einen Stallburschen, um nach ihm zu sehen. Der Junge kehrte mit grüner Nasenspitze und blassen Lippen
    in die Burg zurück; unfähig, das Grauen in Worte zu fassen, dem er auf dem Gehöft ins Auge gesehen hatte.
    Es gab keine Überlebenden. Die Familie war dahingemetzelt worden; von der gebrechlichen Großmutter bis hin zu dem kleinen Mädchen, das seinen ersten Geburtstag nie erleben
sollte.
    Nicht einmal vor den Tieren hatte der Angreifer haltgemacht. Getrocknetes Blut klebte an den Wänden der Kate, und der scharfe Geruch von in Angst gelassenem Urin lag über der Szenerie
wie Leichentuch.
    Es war kein Mord. Es war ein Massaker, die Handschrift eines Wahnsinnigen.

Das Haus auf den Klippen
    Balfere war eine Stadt der Kontraste.
    Die Gerüche des ehrlichen Handwerks – Farbe, Teer, Gerbstoffe - auf der einen Seite, die Dekadenz der Handelsherren mit ihren Duftwässerchen auf der anderen. Im nach Moder
riechenden Hafenbecken lagen Handels- und Kriegsschiffe gleichermaßen. Geduckt in den Schatten der beiden Hügel, die den Kern der Oberstadt bildeten, fanden sich lehmige Wege und
wackelige Hütten, in welche die Stürme im Frühling und Herbst oftmals das Wasser trieben. Die Anwesen der alt eingesessenen Familien dagegen thronten in sicherer Höhe über
den Klippen und trotzten mit ihren steinernen Fassaden Wind und Wetter.
    Auf dem oberen Markt verbreitete sorgfältig verlegtes Kopfsteinpflaster ein städtisches Ambiente, das beim Lustwandeln zwischen den Ständen an Auralis erinnerte. Seide, Schmuck
und Delikatessen wechselten für horrende Preise den Besitzer.
    Auf dem unteren, inoffiziellen Markt stank es nach Unrat. Die Waren waren von schlechter Qualität; die

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