Zenjanischer Lotus (German Edition)
der wärmste Ort im finsteren Gestein. Sie führten eine friedliche Koexistenz, die Ratten und er. Sie leisteten
ihm Gesellschaft, fraßen die Überreste seines Essens und er drehte ihnen im Gegenzug nicht den Hals um. Das war ein gutes Geschäft, wie er fand.
Sothorn verzog das Gesicht und schob seine schmerzenden Fingerknöchel zwischen die Knie. Manchmal war es schwierig, mit den widersprüchlichen Empfindungen fertig zu werden. Er
spürte seinen linken Arm nicht mehr, aber hatte dafür schlimme Schmerzen in den Händen.
Morgen konnte es anders herum sein.
Er war seit über vierzehn Jahren süchtig. Wenn er seinem Herrn und Meister Glauben schenken durfte, gab es keinen anderen Assassinen, der den Nebenwirkungen des Giftes so lange
standgehalten hatte.
Aber seine Zeit lief ab.
Sein Geist war schon seit Jahren stumpf und leer, frei von Gefühlen oder eigenem Willen. Vor wenigen Monaten hatte der körperliche Verfall eingesetzt. Deshalb konnte er sich ein
Brandeisen in den Arm pressen, ohne etwas zu spüren. Seine Gliedmaßen verloren an Empfindungsfähigkeit.
Mal konnte er es nicht spüren, wenn er sich den Fuß stieß, mal fühlte er die Zügel in seinen Fingern nicht, wenn er unterwegs war. Dann wieder wollte er Wasser lassen
und stellte fest, dass sein Unterleib wie tot war.
Es kam, es ging und irgendwann würde es bleiben. Sobald er den Punkt erreichte, an dem die Taubheit in seinen Fingern ihn davon abhielt, seiner Arbeit nachzugehen, war sein Schicksal
besiegelt.
Niemand brauchte einen Meuchelmörder, der keinerlei Gefühl für den Dolch in seiner Hand hatte.
Die Rückkehr in ein normales Leben blieb ihm verwehrt. Stolan von Meerenburg würde sich eher die Zunge herausschneiden als ihn gehen zu lassen. Er wusste zu viel über dessen
Machenschaften. Selbst wenn er Sothorn freigegeben hätte, gab es keinen Ort, an den er gehen konnte.
Als Geschenk für Menschen wie seinen Herrn gab es auf dem Weg der Sucht nach dem Lotus keinen Weg zurück. Noch nie hatte es jemand geschafft, sich von der Droge freizumachen. Die
Schmerzen, die sich durch den Körper fraßen, wenn die giftigen Elemente in den Adern der Betroffenen nach ihren Brüdern riefen, waren unerträglich, trieben gestandene
Männer in den Freitod oder in den Irrsinn.
Der einzige Segen an Sothorns Zustand war, dass der Lotus ihm seine Ängste genommen hatte.
Als er vor vielen Jahren nach Balfere kam – ein schmutziger Bengel in Fetzen gekleidet -, hatte er sich gefürchtet. Die Klippen, auf denen die Stadt errichtet war, hatten ihm ebenso
viel Angst gemacht wie die Ungewissheit, die sich wie eine eiserne Kette um seinen Hals schloss.
Man hatte es ihm nicht leicht gemacht. Nicht ihm, nicht den anderen Unglücklichen, die ihm in den ersten Monaten seiner Ausbildung Gesellschaft geleistet hatten. Man hatte sie
gründlich geprüft.
Eigenschaften wie Zähigkeit, Kraft und besonders Geschick waren wichtig für einen Assassinen, der es wert war, dass man ihn mit Hilfe von kostspieligen Drogen zum Leibsklaven machte.
Niemand investierte ein Vermögen in einen dürren Jungen, der nach zwei Jahren unter der Last des Lotus zusammenbrach.
Sie wurden allein in dunkle Räume gesperrt, mussten hungern, dürsten, wurden geschlagen, getreten, ausgepeitscht und auf dem Deck eines Schiffes der Kraft der Sonne ausgeliefert.
Drei Tage lang. Im Hochsommer. Ohne einen Faden Kleidung am Leib. Manchmal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch liegend auf die Planken gefesselt.
Sothorn hatte sich damals auf eine Weise verbrannt, die ihn für den Rest seines Lebens zeichnen sollte.
Von Natur aus hatte er eine helle Haut, die im scharfen Kontrast zu seinem roten Haar stand. Dank der Sonnenbrände, die er in den ersten zwei Jahren seines Aufenthalts in Balfere erlitten
hatte, erinnerte er an eine der mit Bronze übergossenen Statuen vor dem Tempel der Insa.
Es war eine Ironie des Schicksals, dass seine verstümmelte Haut ausgerechnet an die sanfte Göttin der Heilkunst gemahnte.
Von den drei Jungen, die damals in die Stadt kamen und Stolan von Meerenburg vorgestellt wurden, hatte nur er überlebt. Als er das erste Mal ein Leben nahm, war er elf Jahre alt gewesen,
und es hatte ihm etwas ausgemacht. Nächtelang hatte ihn der Anblick der blutjungen Frau begleitet, die sich unter Krämpfen am Boden wand – getötet von einem die Atemwege
lähmenden Gift, das er ihr in den Wein gegeben hatte. Niemand misstraute einem Jungen in diesem Alter.
Als sein drittes
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