Zenjanischer Lotus (German Edition)
geschlafen.
„Obwohl ich nicht weiß, was Janis mehr quält: Dass er Enes töten musste oder dass er nicht sehen wollte, was offensichtlich war. Immerhin wurde er gewarnt. Wieder und
wieder. Aber hat er auf mich gehört? Oder auf Szaprey? Nein, er hat sich von Enes die Augen verschließen lassen. Wie ihr alle.“ Er blieb stehen und warf dem Liegenden einen
finsteren Blick zu: „Wie du.“
Sothorn unterdrückte ein Ächzen, als er sich aufsetzte und aus Versehen seine Hände belastete: „Was soll das heißen? Sag mir nicht, dass du wusstest, was Enes
plant.“
Geryim warf den Kopf zurück und starrte an die dunkle Holzdecke, bevor er tonlos erwiderte: „Nein. Und ja. Natürlich wusste ich nicht, dass er Stolan von Meerenburg aufsucht und
sich mit ihm verbündet. Aber ich wusste, dass ihm nicht zu trauen war. Zu oft bin ich auf Ungereimtheiten gestoßen. Immer wieder wurde Zwietracht in der Bruderschaft gesät, und wenn
man nach dem Ursprung der Unruhe suchte, fand man Enes vor.“
Nachdenklich sah Sothorn auf seine verbundenen Hände hinab. Er spürte Szapreys Schlaftrank in seinen Adern kreisen, wusste, dass er sich bald ausruhen musste.
Doch der Gedanke an Enes ließ ihn nicht los. An die vielen Gelegenheiten, bei denen der schmale Jüngling ihn mit kleinen Bösartigkeiten über Geryim gefüttert hatte.
Stockend bemerkte er: „Er hat damit gespielt, dass er ein
bene-yden
ist. Er sagte, alle würden ihn deshalb ablehnen. Als er dachte, dass er mich in der Falle hat, hat er es mir
an den Kopf geworfen. Ich glaube, es hat ihm Spaß gemacht.“
„Ja, darin war er großartig“, lachte Geryim bitter. „Der arme, missverstandene
bene-yden,
dem keiner traut, weil er ist, wer er ist. Wie verbirgt man am
geschicktesten einen verräterischen Geist? Indem man allen ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie mit Recht misstrauisch sind. Dabei hatte nichts von Enes‘ Dasein als Verräter
etwas mit seiner Herkunft zu tun. Bei den Göttern, wenn ich da an Uda denke. Sie war ganz anders als er, obwohl sie nach denselben Lehren erzogen worden ist.“
„Uda?“, wiederholte Sothorn.
Rasch rief er sich in Erinnerung, was Enes über den Tod der Assassinin gesagt hatte. Sie hatte sich das Leben genommen. Weil man sie ablehnte. Weil Geryim sie ablehnte.
Im Licht von Enes‘ Verrat war er vorsichtig: „Ich nehme an, dass es nicht stimmt, dass sie sich wegen der Bruderschaft das Leben genommen hat, nicht wahr?“
Geryim fuhr zu ihm herum. Seine gelben Augen büßten an Menschlichkeit ein, als er fauchte: „Was?“
Betroffen fuhr Sothorn mit der Zunge an seinen Schneidezähnen entlang: „Enes war der Meinung – oder hat behauptet -, dass sie gesprungen ist, weil die Bruderschaft ihr
nicht getraut hat. Besonders, weil du sie abgelehnt hast.“
Für einen Moment befürchtete er, Geryim würde auf ihn losgehen. Unbändiger Zorn machte seine Züge hart, ließ ihn die Rückenmuskeln spannen und ihn sich
aufbauen, als erwarte er einen Kampf.
Seine Stimme verkam zu einem gefährlichen Knurren, als er antwortete: „Uda war für uns eine Kerze in der Dunkelheit. Obwohl sie eine
bene-yden
war, war sie unschuldiger
als du oder ich je sein werden. Jeder hat sie geliebt. Niemand hat ihr ihre Vergangenheit zum Vorwurf gemacht.“ Er wurde lauter. „Warum auch? Warum sollten Theasa und Janis
bene-yden
-Schüler in die Bruderschaft holen, wenn sie ihnen nicht trauen? Hast du dir darüber keine Gedanken gemacht, als du Enes‘ Lüge geschluckt hast? Hast du dich das
nicht gefragt? Warum seid ihr alle so verdammt blind gewesen? Es war offensichtlich, was Enes trieb. Oder hast du gedacht, er kommt mit ehrlichen Absichten Nacht für Nacht in dein Bett? Nein,
der einzige Grund war, dass er wusste, dass ...“
Er stutzte und griff nach den Leinenverbänden auf dem Bett. Ruppig setzte er dazu an, sie zu sortieren. Bei genauerer Beobachtung sah es eher aus, als wolle er sie erwürgen.
Sothorn hatte andere Sorgen als die Misshandlung der Verbände.
„Was soll das heißen?“, fragte er scharf.
„Was soll was heißen?“, wand Geryim sich unbehaglich und weigerte sich, etwas anderes als seine arbeitenden Hände anzusehen.
Sothorn verengte die Augen: „Enes hat seine Nächte nicht bei mir verbracht. Ich war einmal mit ihm zusammen. Danach nie wieder.“ In einem Anflug von Ärger fügte er
hinzu: „Vielleicht warst du selbst blinder, als du dachtest.“
Während er sprach, begann es in seinem Kopf zu
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