Zenjanischer Lotus (German Edition)
Unterlippe gebissen und erwartet hatte, rohes Fleisch unter dem
Stoff vorzufinden.
Aber das war zu seiner größten Verwunderung nicht der Fall. Seine Hände waren zweifelsohne in Mitleidenschaft gezogen worden und von hässlichen Blasen übersät,
aber sie schienen zu heilen und keinen Schaden genommen zu haben, der ihm später Schwierigkeiten bereiten würde.
Geryim arbeitete still und gründlich. Er hielt den Kopf gesenkt und mühte sich sichtlich, Sothorn nicht mehr Schmerzen als zwingend nötig zuzufügen. Beim Auftragen der
kühlenden Salbe ging er so behutsam vor, als fürchtete er, dass seine Berührung Sothorn Schreie entlocken könnte.
Es war eigenartig, den oftmals groben, unbeherrschten Wargssolja mit solcher Sanftheit vorgehen zu sehen. Das gleichmäßige Reiben der Finger auf seinem Handrücken rief Sothorn in
Erinnerung, wie viel Glück er gehabt hatte.
Sein Zuhause war niedergebrannt. Er war heimatlos. Der Gedanke, nie wieder mit seiner Familie am Feuer in der Eingangshalle zu sitzen, war schmerzhaft.
Aber sein Leben war ihm geblieben. Ja, er hatte mehr Glück als andere gehabt.
Sothorn senkte die Lider, bevor er sich ein Herz nahm und gerade heraus fragte: „Wie viele sind tot?“
Eine ruckartige Bewegung. Der Tiegel mit der Salbe fiel um und wurde von Geryim aufgerichtet, bevor er seinen Inhalt über die Wolldecke ergießen konnte.
„Zwei“, antwortete der Wargssolja spröde.
„Wer?“
Geryim drehte den Kopf beiseite: „Ranaia und ihr Sohn. Sie ... sie waren unten in der Grotte, als der Feuerelementar kam.“
Sie wussten beide, was das bedeutete: Sie hatten keine Chance gehabt. Die Grotte hatte nur einen Ausgang, und der lag nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der die beschworene Kreatur
in die Festung gekommen war.
Sothorn spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust und hatte das Bedürfnis, sich zu einer Kugel zusammenzurollen.
Ranaias Sohn Fanir war kaum alt genug gewesen, um zu laufen. Ein stilles Kind mit dunklen Locken und stämmigen Beinchen.
Die Assassinin selbst hatte zu den lebenshungrigsten und begeisterungsfähigsten Geschöpfen in der Bruderschaft gehört. Stets bereit, sich auf einen Mann einzulassen. Zu tanzen. Zu
singen. Sich im spielerischen Kampf mit anderen zu messen.
Gütige Insa, erst gestern schien er mit ihr am Feuer gesessen zu haben; den Kopf in ihren Schoß gelegt.
Ranaia. Fanir. Teile der Familie. Fort. Aus ihrem Kreis gerissen. Verlust.
Gwanja hob den Kopf, fixierte Sothorn und grollte unterdrückt. Das Fell an ihrer Schnauze war verbrannt, die Haut darunter hell und makellos.
„Um Varn und Shahim steht es auch nicht sonderlich gut“, fuhr Geryim fort. Er sprach gepresst, als müsse er sich zwingen, die Neuigkeiten preiszugeben. „Varns
Schulterwunde ist tief und hat sich entzündet. Shahim hat üble Verbrennungen erlitten. Sein linkes Bein besteht nur noch aus rohem Fleisch. Kara ist Tag und Nacht bei ihm.“
„Was sagt Szaprey dazu?“
„Er ist sich sicher, dass er sie durchbringt, und lässt keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass wir uns viel zu viele Sorgen machen. Und natürlich, dass wir uns schrecklich
anstellen und ihn sein Handwerk ausüben lassen sollen, statt ihn mit dummen Fragen zu belästigen.“
Sinnend nickte Sothorn: „Das klingt nicht allzu schlecht. Wenn er noch Zeit hat, sich zu beschweren, hat er wohl wenig Zweifel, dass die beiden auf die Beine kommen.“
„Es wird lange dauern, aber ja, das denke ich auch. Ich wünschte nur, das gälte auch für Janis“, murmelte Geryim, während er behutsam frisches Leinen um die
Hände wand.
Sothorn runzelte die Stirn: „Was fehlt ihm?“ Er hatte den Vater der Bruderschaft nicht mehr gesehen, seitdem er ihn im Wald zurückgelassen hatte. „Ist er
verletzt?“
Geryim schüttelte den Kopf: „Nicht sein Körper. Seine Seele dagegen ... Er spricht nicht. Kein Wort. Abends betrinkt er sich. Und wenn er kaum aufrecht stehen kann, verliert
er die Beherrschung. Schreit. Tobt. Theasa meint, er kann sich nicht verzeihen, was mit Enes geschehen ist.“
„Janis musste es tun“, sagte Sothorn leise. „Wir haben es uns allen geschworen. Die Bruderschaft kann nur überleben, wenn jeder von uns mit seinem Leben für sie
einsteht. Und Enes ...“
„... hat uns verraten. Ja.“
Geryim sprang auf und begann, unruhig vor dem Ende des Bettes auf und ab zu schreiten. Seine Bewegungen waren fahrig und unrund, als hätte er in letzter Zeit zu wenig
Weitere Kostenlose Bücher