Zenjanischer Lotus (German Edition)
schwirren.
Enes hatte Geryim glauben gemacht, dass sie häufig das Lager teilten. Was bedeutete das für sie? Hatte Geryim am Ende darauf bestanden, Abstand zu wahren, weil er sich nicht sicher
war, was Sothorn empfand?
Nein. Das konnte er sich nicht vorstellen. Geryim war kein Mann, der sich beiseitedrängen ließ oder kampflos aufgab, wenn er etwas haben wollte. Zumal er gewusst hatte, wie Sothorn zu
ihm stand. Oder hatte er Zweifel an seiner Treue zur Bruderschaft gehabt? Hatte er geglaubt, dass er mit Enes gemeinsame Sache machte? Sothorn wollte es nicht hoffen. Der Gedanke verletzte tiefer
als jede Zurückweisung.
Blieb die Frage, warum Geryim jetzt an seiner Seite war. Fühlte er sich schuldig? War er dankbar für Gwanjas Rettung? Warum machte er es sich zur Aufgabe, ihn zu pflegen?
Ein milder Kopfschmerz näherte sich Sothorn und ließ ihn halb die Augen schließen.
Er würde sich später mit der Frage nach Geryims Motiven auseinandersetzen. Schon unter normalen Umständen war es schier unmöglich, die Denkweise des Wargssolja zu
begreifen.
Mit schmerzenden Händen, dem Verlust von Ranaia und ihrem Kind im Herzen und der Schwäche, die in seinen Knochen verblieben war, fühlte Sothorn sich nicht fähig, dessen
schwieriges Verhalten zu hinterfragen.
Geryim selbst schien seinerseits nicht erpicht, das Gespräch fortzusetzen. Rastlos strich er mit den Händen über die geschnitzten Bettpfosten. Sein Blick war auf die Öllampe
gerichtet, die an ihrer Halterung über dem Nachttisch schaukelte. Sein Kiefer bewegte sich, sodass die Stoppeln auf seinem Kinn bewegliche Schatten bildeten.
Schließlich deutete er knapp auf die schmutzigen Verbände und die Schale mit der Fischsuppe: „Ich bringe das weg und helfe Lilianne beim Auskochen des Leinens. Unsere
Vorräte halten sich in Grenzen. Du solltest das Deck sehen. Überall hängen Taue, an denen Verbände und Kleidung getrocknet werden. Die
Henkersbraut
sieht aus wie ein
Lumpenschiff.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Geryim Schale und Leinen an sich und trat zu der niedrigen Holztür, die auf das Deck führte.
Mit dem Ellenbogen drückte er den schlichten Riegel beiseite, hielt jedoch inne, bevor er das Zimmer verließ.
Lange verharrte er bewegungslos, bevor er so leise, dass Sothorn ihn kaum verstehen konnte, sagte: „Colthan hätte das nicht getan. Immerhin hat er es nicht einmal geschafft, nach mir
zu suchen. Da wäre er erst recht nicht in die brennende Festung gegangen, um Gwanja zu holen. Ich weiß das zu schätzen, aber ...“, er wandte sich zu Sothorn um und
schenkte ihm ein nervöses Grinsen, „... tu mir den Gefallen und komme das nächste Mal zurück, wenn ich dich rufe. Gefährtentiere sind wichtig. Aber nicht wichtiger als
du.“
Damit drückte er die Tür auf und verschwand eilig.
Sothorn sah ihm erst ungläubig, dann zunehmend bewegt hinterher.
Geryim hatte für seine Verhältnisse ein großes Eingeständnis gemacht. Allgemein hatte er an diesem Morgen viel geredet, sich um ihn gekümmert, bei ihm gewacht, wenn man
der ausgesessenen Mulde auf der anderen Seite der Matratze Glauben schenken durfte.
Nur kam es Sothorn falsch vor, sich hier und jetzt darüber zu freuen. Es konnte nicht richtig sein zu genießen, dass Geryim sich seiner annahm, wenn es Tote gegeben hatte.
„Für einen Assassinen bist du reichlich zimperlich in Sachen Tod geworden“, sagte Sothorn halblaut.
Er hatte sich verändert, wurde ihm bewusst.
Er war nicht mehr der gnadenlose Meuchelmörder, den Stolan ausgebildet hatte. Nicht länger eine Waffe. Nur noch jemand, der eine Waffe zu führen wusste.
Seufzend rollte er sich auf die Seite und vergrub das Gesicht im Kissen.
Unter dem Tisch wühlte Gwanja in ihren Decken und legte sich ihrerseits auf die andere Seite. Es tat gut zu wissen, dass sie da war. Dass er nicht allein war.
* * *
„Komm schon, lass es mich allein versuchen. Das ist entwürdigend“, beschwerte Sothorn sich.
Geryim, der ihm einen Bissen Brot vor den Mund hielt, schüttelte den Kopf: „Vergiss es. Wir haben nicht viel Brot an Bord. Da musst du nicht die Hälfte auf den Boden fallen
lassen, nur weil du zu störrisch bist, dir helfen zu lassen.“
Misslaunig robbte Sothorn rückwärts, bis er mit dem Rücken an das Kopfbrett des Bettes stieß.
Feindselig musterte er erst die angebotenen Speisen, dann den Wargssolja, der mit verschränkten Beinen neben ihm saß und vermeintlich verführerisch mit einem Kanten Brot
Weitere Kostenlose Bücher