Zenjanischer Lotus (German Edition)
Opfer in seinem Blut lag und mit leeren Augen in den Himmel sah, hatte Sothorn in der folgenden Nacht das Brandeisen geschaffen. Geformt aus einer abgebrochenen Ledernadel und
mit viel Geduld über den Flammen biegsam gemacht.
In den frühen Morgenstunden hatte er sich drei Monde in den Arm gebrannt. Es wurde zu einem Ritual, obwohl er zu jung war, um zu begreifen, warum er es tat. Er hatte die Tradition
fortgeführt, obwohl er schon lange nichts mehr dabei empfand, ein Leben zu nehmen.
Sothorns Dasein bestand aus drei Elementen. Schmerzen, wenn Stolan ihn darben ließ. Erleichterung, wenn die zähe Flüssigkeit seine Lippen benetzte. Das Wissen, dass er gute
Arbeit leisten musste, wenn er nicht zugrunde gehen wollte.
Aber es ging zu Ende. Vielleicht blieben ihm Wochen, vielleicht ein Jahr.
Der Gedanke, bald zu sterben, machte ihn weder ängstlich noch wütend. Es war der Lauf der Dinge. Kein Mann konnte sich gegen sein Schicksal stellen.
Eines Tages würde ihm der Dolch aus der Hand gleiten. Falls er den Auftrag überlebte, hoffte er, dass sein Meister gnädig war und ihm einen schnellen Tod gab. Von den Klippen in
die schäumende See gestoßen zu werden, würde ihm gefallen. Einmal fliegen, sich einmal leicht fühlen, einmal frei sein.
Sothorn, der blutrünstigste Assassine von Sunda, war dreiundzwanzig Jahre alt und wusste, dass es keine Rettung für ihn gab.
* * *
„Er ist nicht bereit.“
Die Stimme war sonor, kräftig und doch kaum lauter als das Prasseln der Holzscheite im Kamin. Es war die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte und es nicht
nötig hatte, durch Lautstärke auf sich aufmerksam zu machen.
Ein spöttisches Raunen antwortete ihm, ungesund heiser klingend, als spräche die Person mit zugedrückter Kehle: „Es geht nicht um bereit oder nicht bereit. Es muss getan
werden, was nötig ist.“
Der hochgewachsene Mann sah auf und musterte die aufrechte Gestalt in den Schatten. Ihrer Silhouette war kaum zu entnehmen, dass es sich bei ihr um eine Frau handelte. Schmal, frei von weichen
Rundungen, die Körperhaltung stolz und kampfbereit. Eine Herausforderung an die Welt im Allgemeinen und ihn im Besonderen.
Theasa war weder schön noch sanft noch weiblich. Ihre Kraft, die man ihren schlanken Armen kaum zutraute, und ihr Biss machten sie zu einer einzigartigen Frau, die man bewundern, aber nicht
leicht lieben konnte. Diese Phase ihrer Bekanntschaft hatten sie lange hinter sich gelassen.
Nachdenklich drehte Janis den Becher mit warmem Honigwein in seinen Händen: „Aber was, wenn er versagt?“
„Versagen?“, echote Theasa ungläubig und wandte sich zu ihm um. Die Dolche an ihrem Gürtel schaukelten sacht, verursachten in ihren Lederhüllen jedoch keinerlei
Geräusch. „Sprechen wir über dieselbe Sache?“
Er zog in Betracht, dass sie aneinander vorbeigeredet hatten. Theasas Gedanken neigten dazu, in wirren Bahnen zu verlaufen.
„Sag du es mir“, bat er und griff sich in den winterlich struppigen Bart. „Ich rede von Geryim. Ich glaube nicht, dass er soweit ist. Was, wenn er es nicht schafft?“
Theasa lachte rau auf: „Dann gibt es über kurz oder lang zwei Tote, würde ich sagen.“
Nicht schockiert, aber betroffen lehnte Janis sich in die Kissen zurück und streckte die kalten Füße in Richtung Feuer. Erst vor wenigen Stunden war er heimgekehrt und hatte
feststellen müssen, dass Theasa Geryim ohne Rücksprache mit ihm nach Balfere geschickt hatte.
Er ärgerte sich.
Theasa hatte jedes Recht, Befehle zu erteilen, aber oft mangelte es ihr an Weitsicht. Sie handelte impulsiv, ohne vorher nachzudenken.
Geryim war jung im Verhältnis zu ihnen und äußerst anfällig für Einflüsse von außen. Er kämpfte hervorragend, aber ihn zu diesem Zeitpunkt auf einen
anderen Assassinen anzusetzen, war ein Wagnis, das Janis nicht eingegangen wäre.
Janis verstand nicht, warum Theasa den Wargssolja allein seines Weges geschickt hatte. Warum einen einzelnen Mann in den Hexenkessel der Küstenstadt schicken, wenn eine Eskorte ihn
begleiten konnte? Den Auftrag musste Geryim allein erfüllen, aber das bedeutete nicht, dass ihn niemand begleiten durfte.
Für Theasa war alles eine Prüfung, ihre ganze Existenz, jedes Jahr, jeder Auftrag, jede Stunde.
Janis drückte seinen Eckzahn in die Unterlippe und nahm sich ein Herz: „Es ist unklug, einen guten Mann zu verschleißen. Wenn er nicht zurückkommt, wird man deine
Entscheidungen infrage stellen. Und meine
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