Zenjanischer Lotus (German Edition)
gleich dazu.“
„Angst?“, spottete Theasa. „Es muss getan werden, das weißt du. Und Geryim ist der richtige Mann dafür. Übrigens ...“, sie legte eine kunstvoll in die
Länge gezogene Pause ein, „... ist mir sehr klar, wer hier meine Entscheidung anzweifelt. Warum kommt der Vorwurf von hinten, alter Freund? Warum sagst du mir nicht ins Gesicht, dass du
nicht mit meinem Befehl einverstanden bist?“
„Weil unsereins immer von hinten angreift“, rutschte es Janis heraus und brachte sie beide zum Lachen. Unpassend dreckig angesichts des ernsten Gesprächsthemas.
Theasa schlenderte aus den Schatten und ließ sich neben ihm auf die Sitzkissen fallen. Sie zog die Beine an und bettete ihr Kinn auf ihre Knie.
Schräg sah sie ihn von der Seite an: „Ich kenne meinen Platz. Du bist der Denker und ich bin diejenige, die handelt. Bleiben wir dabei. Damit sind wir immer gut gefahren. Aber um auf
das ursprüngliche Thema zurückzukommen: Was wirfst du mir vor?“
„Dass du dir zu wenig Gedanken machst“, erwiderte Janis ehrlich. „Du spielst mit Geryims Leben, als wäre es nichts wert. Aber wir brauchen ihn. In allen Belangen. Er ist
ein guter Mann.“
„Ja, das ist er“, stimmte Theasa ihm zu, ein gieriges Lächeln um die Lippen. „Er ist ein Tier. Er kämpft wie ein Wolf. Manchmal glaube ich, er könnte der
Stärkste von uns werden. Er hat etwas Wildes in sich. Etwas, das selbst in größer Not einen Ausweg findet.“
„Eine nützliche Eigenschaft für einen Assassinen“, gab ihr Gefährte zu und nippte an seinem Honigwein. „Aber vergiss nicht, dass er unberechenbar ist. Ich wage
nicht einzuschätzen, wie er sich in Balfere schlagen wird. Vielleicht verlieren wir ihn.“
„Wir führen ein gefährliches Leben“, zuckte Theasa die Achseln. „Leben, sterben. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
Janis verdrehte die Augen: „Nun stell es nicht dar, als wäre er dir egal.“
Ein scharfer Unterton mischte sich in seine Worte, den er nicht bereute. Er wusste, warum Theasa sich kühl gab und dass ihr eisiges Wesen Teil ihrer Maske war, doch in Momenten wie diesen
ärgerte ihn ihre Gleichgültigkeit.
Janis machte sich Sorgen. Geryim erwartete ein gefährlicher Gegner, mit dem er selbst es nicht aufnehmen konnte.
Theasa betrachtete ihn von oben bis unten, bevor sie spitz erwiderte: „Nein, er ist mir nicht egal. Aber im Gegensatz zu dir bin ich mir sicher, dass Geryim Sothorn gewachsen ist und
wieder nach Hause kommt.“
Das dampfende Meer
Die Küstenstadt wurde von ihren Bewohnern oft als Dampfküche des Westens bezeichnet. Schuld daran war die schlechte Sicht, die an den meisten Tagen des Jahres im Hafen
vorherrschte.
Oft war es lediglich Nebel, der vom Meer her aufzog. Aber wenn der Wind von Nordosten kam, wurden die nach Schwefel riechenden Dämpfe des nahen Gebirges in die Stadt getrieben. Vulkane
ergossen dort einen stetigen Strom Lava ins Meer und warfen gewaltige Schwaden auf.
Balfere kannte drei Witterungen. Es gab Regenschauer mit peitschenden Windböen, träge die Dächer umschmeichelnden Nebel und Dampf, der nach faulen Eiern roch.
Dass die Sonne sich durchsetzte, kam selten vor.
Sothorn störte die Feuchtigkeit nicht, die in seine Kleidung drang und seine Haut unter dem Stoff benetzte. Sie erinnerte ihn an seine Kindheit, an den Sumpf und an seine Eltern, deren
Gesichter er nicht mehr heraufbeschwören konnte. Er wusste, welche Spiele er als Kind gespielt hatte, an welcher Stelle man ihn eingefangen hatte und wo die Bienenkörbe hingen, aus denen
sie früher Honig gestohlen hatten. Aber wie seine Mutter ausgesehen hatte, wusste er nicht mehr.
Es kümmerte ihn nicht.
Leichtfüßig erklomm er die Strickleiter und betrat den abgelegenen Pier. An dem altersschwachen Steindamm legten keine großen Schiffe mehr an. Nur vereinzelte Fischerboote
wiegten sich auf den Wellen; umkreist von hungrigen Möwen, die auf einen Teil des Fangs hofften.
Sothorn vertäute sorgfältig das Ruderboot. Seine Finger zitterten. Er hatte es nicht länger in seiner kargen Behausung ausgehalten.
An Tagen wie diesen, an denen er bereits mit Schmerzen aufwachte, drohten die grob behauenen Mauern seines Kerkers ihn zu ersticken. Sein Meister interessierte sich nicht dafür, ob er das
Anwesen verließ. Nur morgens musste er sich verfügbar halten, um Aufträge entgegen zu nehmen.
An diesem Tag hatte Stolan keine Verwendung für ihn gehabt. Leider. Zu gern hätte er sich eine Belohnung
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