Zero Day
eine zweispurige Landstraße am Rande von Drake gelotst hatte. Dort hatten die Autoscheinwerfer plötzlich eine Ansammlung augenscheinlich verlassener Häuser erhellt, mindestens hundert, möglicherweise viel mehr. Sie sahen aus, als wären sie aus Fertigteilen errichtet worden, die in Massen fabriziert wurden. Auf einer Seite der mittig verlaufenden Durchgangsstraße dieser Geisterstadt standen reihenweise Masten für Strom- und Telefonkabel. Doch während Puller die Stadt auf diesem »kleinen Umweg« durchquerte, änderte sich sein Eindruck. Nicht alle Häuser standen leer; wenigstens einige waren bewohnt. Alte Autos parkten davor. Allerdings stammte das Licht, das er hinter mehreren Fenstern sah, wahrscheinlich nicht aus elektrischen Quellen, eher von Gasfunzeln oder aus Batterien. Beim Weiterfahren waren seine Scheinwerferstrahlen dann auf etwas höchst Außergewöhnliches gefallen: Auf einen riesigen Beton-Kuppelbau, der sich aus dem Wald erhob.
Verdammt, dachte Puller, was ist denn das?
Ein wenig verwirrt setzte er die Fahrt fort. Das GPS korrigierte sich automatisch, sodass er gleich darauf die richtige Strecke einschlagen konnte. Als er ans Ziel gelangte, fühlte er sich nicht müde. Tatsächlich hatte die lange Fahrt ihn entspannt und gleichzeitig aufgemöbelt. Er beschloss, sofort an die Arbeit zu gehen.
Im Voraus hatte er telefonisch ein Zimmer im einzigen Motel der Gegend reserviert. Es war eine Bruchbude, aber das störte Puller nicht. Er hatte Jahre seines Lebens in unwirtlichen Gegenden zugebracht, in Sümpfen und Wüsten, mit Eimern als Dusche und Erdlöchern als Toilette.
Die Tür zum Motelbüro war abgeschlossen, doch nach dreimaligem Klingeln wurde geöffnet. Nachdem eine schläfrige alte Dame in verlottertem Hausmantel und mit Lockenwicklern im Haar ihn hinter der Rezeption ins Gästebuch eingetragen hatte, erkundigte sie sich nach dem Zweck seines Aufenthalts.
»Ich mache hier Urlaub.« Puller griff nach dem Zimmerschlüssel.
Die alte Frau lachte auf. »Sie sind mir ja ein Schlawiner«, sagte sie. Wegen einer großen Lücke in den Schneidezähnen lispelte sie. Sie roch nach Nikotin, Knoblauch und Salsasoße, eine umwerfende Mischung mit weitem Wirkungsbereich, obwohl die Alte höchstens eins sechzig groß war.
»Können Sie mir ein Lokal empfehlen?«, fragte Puller.
»Kommt darauf an«, gab die Frau zur Antwort.
»Auf was?«
»Ob Sie gegen ein bisschen Kohlenstaub im Rührei was einzuwenden haben.«
»Kann kaum schlimmer sein als abgereichertes Uran im Morgenkaffee. Und wie Sie sehen, lebe ich noch.«
Die Frau kicherte. »Dann dürfen Sie jedes Lokal dieses Ortes aufsuchen. Sie sind alle ungefähr gleich.« Puller wandte sich zum Gehen. »Sind Sie verheiratet, Schätzchen?«
»Haben Sie Interesse?«, fragte Puller zurück. Als er sich umdrehte, sah er die Alte grinsen.
»Wär’s nur so, Schätzchen«, sagte sie. »Wär’s doch nur so. Schlafen Sie sich erst mal aus.«
Puller verließ das Büro. Er hatte nicht vor zu schlafen.
6
Auf der Fahrt nach West Virginia hatte Puller den Polizeibeamten, der vor Ort die Ermittlungen leitete, mehrmals anzurufen versucht und jedes Mal ein paar Sätze auf den AB gesprochen. Kein einziger Rückruf war erfolgt. Möglicherweise waren die Einheimischen weniger kooperativ, als Pullers Leitender Spezialagent angedeutet hatte. Oder sie waren mit vier Leichen und einem gewaltigen forensischen Rätsel schlichtweg überfordert. Letzteres konnte Puller ihnen schwerlich verübeln.
Das Motel bestand aus einem einstöckigen Gebäude mit Innenhof. Auf dem Weg zu seinem Zimmer entdeckte Puller einen jungen Mann, der vor einem Pepsi-Automaten, den man zehn Meter vom Empfangsbüro entfernt an einen Metallpfosten gekettet hatte, bewusstlos auf einem Stück Rasen lag. Puller sah sich ihn auf Verletzungen an, fand jedoch keine. Er überzeugte sich davon, dass der Mann Pulsschlag hatte, roch eine Alkoholfahne und ging daraufhin weiter. Er trug die Tasche mit den Klamotten in das kaum vier mal vier Meter messende Zimmerchen. Das Bad war so klein, dass er mit den Händen locker zwei gegenüberliegende Wände berühren konnte, wenn er sich in die Mitte stellte.
Puller brühte sich Filterkaffee aus eigenem Vorrat auf und benutzte dafür seine tragbare Kaffeemaschine, eine Angewohnheit, die er bei Auslandsaufträgen angenommen hatte. Er setzte sich auf den Fußboden, klappte vor sich den Schnellhefter auf, suchte eine Rufnummer heraus, zückte das Handy und
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