Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
braust davon.
Na toll. Katran ist die einzige Person aus meiner Vergangenheit, auf die ich gut und gerne verzichten könnte, und ausgerechnet auf ihn muss ich stoßen.
Die Sonne steht schon tief am Horizont, als ich mich nach Hause schleppe. Ich muss mich beeilen, damit die anderen nicht stutzig werden und wissen wollen, warum ich so spät komme. So vergehen die letzten Meilen wie im Flug.
Ich habe gekniffen.
Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich zu große Angst, Nico die Wahrheit zu sagen. Wenn seine Reaktion bei Holly schon so extrem ausgefallen ist, obwohl sie sich doch nur von ihrem Bruder verabschiedet hat, was würde er dann erst mit mir machen? Sobald er von Coulson erfährt, bin ich nicht mehr die Besondere. Vor allem, weil ich es ihm nicht gleich bei der ersten Gelegenheit gebeichtet habe. Vielleicht lässt er mich nicht einmal am Leben.
Wir sind jetzt deine Familie . Nico hätte sicher keinerlei Interesse, mir bei der Suche nach Ben zu helfen. Aus seiner Sicht wäre Ben nur ein weiteres Sicherheitsrisiko, denn durch ihn werde ich leichtsinnig. Freunde, Loyalitätskonflikte .
Ich stecke zwischen Nico und Ben fest.
Es gibt nur einen Weg, mich zu entscheiden. Ich muss unbedingt Ben sehen.
»Ja, Liebes?«
Cams Tante ist älter, als ich gedacht habe, ihr graues Haar lose hochgesteckt. Ängstlich späht sie durch die dünne Drahtglasscheibe.
Vor dem Eingang trete ich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ist Cam da?«
»Sicher. Komm doch herein, Liebes.«
Durch eine geschmacklos eingerichtete Diele folge ich ihr ins Wohnzimmer, wo ich von kitschigen Porzellanfiguren, Rüschen und anderem Schnickschnack fast erschlagen werde.
»Cameron, du hast Besuch!«, ruft sie.
Als er die Treppen herunterkommt, bleibt mir die Luft weg. Heute schaut er noch viel schlimmer aus, sein halbes Gesicht ist geschwollen und blutunterlaufen. Er hat ein übles Veilchen – alles nur meinetwegen.
»Danke«, sagt er mit Seitenblick auf seine Tante. Die flieht etwas aufgelöst in die Küche und zieht die Tür hinter sich zu.
»Ähm … ihr habt es nett hier.«
»Hör bloß auf. Hier sieht es echt scheiße aus.«
»Hast du Lust, eine Runde spazieren zu gehen?«
»Gerne.« Er lächelt mich an, jedenfalls mit der Hälfte, die noch lächeln kann. Wir gehen nach draußen, und mir kommt es vor, als hätten Cam und ich mehr gemeinsam, als ich dachte. Seltsame Atmosphäre bei ihm zu Hause. Irgendwie fühlt man sich beobachtet. Wohl oder übel wohnt Cam in einem fremden Haus bei Verwandten, die er kaum kennt. Mir ist es vor ein paar Monaten ähnlich ergangen, als ich im Haus gegenüber gelandet bin. Wobei Mum in Einrichtungsfragen deutlich mehr Stil besitzt.
Aber warum bin ich ausgerechnet heute Abend zu ihm gekommen? Nach dem Nachmittag mit Tori, Katran und Nico hatte ich einfach ein unbändiges Verlangen, etwas Normales zu tun, einen Freund zu besuchen. Das heißt, wenn Cam nach allem noch mein Freund sein will. Oder konnte ich es nur nicht ertragen, mit meinen Gedanken allein zu sein?
Erst nach einer Weile fängt er an zu reden.
»Ich habe dich heute gar nicht in der Schule gesehen.«
»Sorry.«
»Beim Essen bist du auch nicht aufgetaucht. Wo warst du denn?«
»Hier und da.«
»Nach der letzten Stunde habe ich vorm Klassenzimmer auf dich gewartet. Aber da habe ich dich auch nicht gesehen.«
»Mir hat es besser gefallen, als du mich noch mit Schweigen bestraft hast«, sage ich und bereue es sofort, als ich seinen verletzten Blick bemerke. »Tut mir leid.«
»Hör zu. Wenn du endlich sagst, was los ist, kann ich dir vielleicht helfen.« Wir haben den Dorfrand erreicht, und ich mache Anstalten umzukehren, doch er nimmt mich bei der Hand und zieht mich in den dunklen Feldweg. »Komm schon«, sagt er, doch mir ist mulmig dabei. Der Weg führt zu der Stelle im Wald, wo Wayne gefunden wurde, dort will ich nie wieder hin. Aber sobald wir von der Straße nicht mehr zu sehen sind, bleibt er stehen und lehnt sich an den Zaun.
»Kyla, ich verstehe ja, dass du meinst, mir nichts erzählen zu können. Aber hör auf zu behaupten, da wäre nichts. Das kaufe ich dir nämlich nicht ab.«
»Okay.«
»Aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag einfach Bescheid. Egal, was es ist.«
Ich sehe ihn an. Mir kommen gleich die Tränen, Cam muss mich wirklich gernhaben, denn er bietet mir seine Hilfe an, obwohl er weiß, dass er sich damit in Schwierigkeiten bringt. Spätestens seit gestern muss ihm das klar sein. Gleichzeitig frage
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