Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
ich mich aber auch warum? Warum ist er bereit, sein Leben für jemanden zu riskieren, den er kaum kennt? Tut er es aus reiner Freundschaft oder steckt mehr dahinter? Vorsichtig berühre ich seine geschwollene Wange. »Siehst ja, was du dir damit eingehandelt hast.«
»Noch ein paar Minuten und ich hätte den Mistkerl fertiggemacht. Der hing ja schon total in den Seilen.«
Daraufhin muss ich grinsen. »Schon klar. Der hatte zwar keinen Kratzer, aber nur so gezittert vor Angst.«
»Der belästigt uns nicht noch mal«, sagt Cam und nimmt eine Boxerpose ein.
Ich lache. »Ganz bestimmt nicht. Und danke, dass du mir geholfen hast, auch wenn das vollkommen irre war.«
»Ich würde wirklich alles tun, um es den Lordern heimzuzahlen«, sagt er nunmehr ernst. Sein Blick ist nach innen gerichtet, auf einen anderen Ort, eine andere Zeit, und ich glaube nicht, dass er von gestern spricht. Er schüttelt den Kopf. »Was ist mit dir?« Nun schaut er mich an und scheint wieder im Hier und Jetzt zu sein.
»Ich muss da noch ein paar Sachen klären. Mehr kann ich nicht sagen«, druckse ich herum.
»Geheimnisvoll wie immer. Los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät zum Abendbrot.«
Er streckt mir die Hand hin, ich ergreife sie und halte sie auf dem Nachhauseweg vielleicht ein wenig zu stark fest. Eine Rettungsleine zu einem anderen Leben. Eines, das mir zu entgleiten droht.
Bei der Gruppensitzung am Abend macht Penny mit Spielen weiter. Irgendwo hat sie noch mehr Schachsets aufgetrieben, offenbar glaubt sie, wenn ein Slater das Schachspielen lernen kann, können es die anderen auch.
Penny teilt uns in zwei Gruppen ein, wobei ich die eine und sie die andere übernimmt. Wir gehen die Aufstellung und die Figuren durch, wer wie ziehen darf. Dann fangen wir sogar ein paar Partien an, aber ich bin nicht so recht bei der Sache, mir kommt es so belanglos vor. Als ob das Verschieben der Figuren, die abwechselnden Züge der Spieler irgendetwas mit dem wahren Leben zu tun hätten.
Meine Gedanken drehen sich immer wieder im Kreis. Alles scheint über Nico zu laufen, er bestimmt, was als Nächstes geschieht. Ein Schachgroßmeister ist seinem Gegner immer mehrere Züge voraus, durchschaut dessen Absichten und errät die Position der Figuren. Aber selbst Nico weiß nicht über mich und Coulson Bescheid.
Wer wird diese Partie gewinnen? Ist es für beide nur ein Spiel?
Vor dem Einschlafen konzentriere ich mich auf Bens Gesicht und stelle es mir in Gedanken vor, ein frustrierendes Unterfangen. Immer wieder entgleitet es mir.
Für mich bedeutet er alles, und doch ist er nur ein einzelnes Opfer unter vielen, deren Leben die Lorder Tag für Tag zerstören, um an der Macht zu bleiben. Was ist das Leben eines Einzelnen wert, wenn das Schicksal vieler auf dem Spiel steht? Nico hat gesagt, ich hätte eine entscheidende Rolle im Freiheitskampf. Einerseits bin ich stolz darauf, andererseits habe ich auch Angst, was auf mich zukommt. Wenn Nico recht hat und die Tage der Lorder tatsächlich gezählt sind, darf ich da die Mission für Ben gefährden?
Aber ich muss ihn doch retten!
Ich hasse dieses Chaos im Kopf. Da hilft nur eins, ich muss Ben sehen. Und ihn vor Coulson warnen.
Ich laufe, so schnell ich kann.
Aber nie ist es schnell genug.
Manchmal werde ich noch beim Aufwachen von den namenlosen, unsichtbaren Ängsten verfolgt. Am schlimmsten ist es, wenn ich schon am Boden liege und er mich nicht in Ruhe lässt.
Selbst mittendrin weiß ich, dass es ein Traum ist. Andauernd derselbe Traum.
Doch das nimmt ihm nicht den Schrecken.
Ich falle hin. Er will einfach nicht verschwinden. Gewaltsam kneife ich die Augen zusammen, ich kann nicht hinschauen und sehen, was als Nächstes geschieht. Ich kann einfach nicht …
Und ich schreie, doch eine Hand presst sich auf meinen Mund und kein Laut kommt heraus. Ich wehre mich, aber warme, starke Arme halten mich und wiegen mich sanft. Eine Stimme flüstert tröstende Worte: »Schhh, ist ja gut, Rain. Ich bin hier.«
Als ich die Augen aufschlage und wieder zu Sinnen komme, nimmt er die Hand von meinem Mund. Katran ist bei mir. Alles nur ein Traum.
»Wieder der gleiche?«
Zitternd nicke ich, bringe noch immer kein Wort heraus, denn eine weitere Angst quält mich. Die Angst, noch mehr von mir zu verlieren, bis auch noch die letzten Reste meines Ichs gut verschnürt in der hintersten Schublade verschwunden sind.
Im Dunkeln öffne ich die Augen. Die Angst weicht einem Schock. Bislang habe ich immer geglaubt,
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