Zerstöre mich
Augen fest zu.
Mir ist wohl bewusst, dass Juliette verstört und verängstigt war. Aber ich hätte nie vermutet, dass ich diese Gefühle hervorgerufen hatte. Im Laufe unserer gemeinsamen Wochen war sie entspannter geworden, hatte sogar glücklich und gelöst gewirkt. Ich hatte mir erlaubt, mir eine gemeinsame Zukunft für uns vorzustellen; hatte mich dem Glauben hingegeben, Juliette wollte mit mir zusammen sein und wüsste nur nicht, wie wir das verwirklichen könnten.
Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass Kent der Grund ihrer Zufriedenheit war.
Ich streiche mir übers Gesicht, presse die Hand auf den Mund.
Wie ich mit ihr gesprochen habe.
Ich hole tief Luft.
Wie ich sie berührt habe.
Ich beiße die Zähne zusammen.
Wenn es nur um sexuelle Anziehung ginge, würde ich mich nicht so grenzenlos gedemütigt fühlen. Doch ich wollte so viel mehr als nur ihren Körper.
Jählings flehe ich meinen Geist an, sich Wände vorzustellen. Nur Wände. Weiße Wände. Betonbauten. Leere Räume.
Ich baue Wände, bis sie zu bröckeln beginnen, und dann errichte ich neue. Ich baue und baue und rühre mich nicht von der Stelle, bis mein Geist gereinigt ist, unberührt, keimfrei. Bis er nichts mehr enthält außer einem kleinen weißen Zimmer. In dem eine einzige Glühbirne von der Decke baumelt.
Blitzsauber. Unberührt. Still.
Ich blinzle, um die Katastrophenflut fernzuhalten, die meine kleine makellose Welt bedrängt; ich schlucke heftig, um die Angst zu vertreiben, die mir die Kehle hinaufkriecht. Ich schiebe die Wände beiseite, mache den Raum groß genug, dass ich ausreichend Luft bekomme. Dass ich stehen kann.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte für eine Weile aus mir heraustreten. Könnte diesen abgenutzten Körper hinter mir lassen, doch zu viele Ketten fesseln mich, und die Gewichte sind zu schwer. Mehr als dieses Leben ist nicht mehr von mir übrig. Und ich weiß genau, dass ich für den Rest des Tages nicht mehr in den Spiegel schauen kann.
Schlagartig ekle ich mich vor mir selbst. Ich muss unbedingt dieses Zimmer verlassen, sonst werden meine eigenen Gedanken mir den Krieg erklären. Zum allerersten Mal überlege ich mir nicht, was ich anziehen will, sondern greife nur hastig nach einer Hose. Schlüpfe mit dem gesunden Arm in einen Blazer und lege ihn mir um die Schultern. Ich sehe lächerlich aus ohne Hemd, aber morgen wird mir schon eine Lösung einfallen.
Jetzt muss ich nur schnell raus hier.
3
Delalieu ist der einzige Mensch hier, der mich nicht hasst.
Er wirkt zwar meist verängstigt in meiner Gegenwart, hat aber kein Interesse daran, mich zu entmachten. Obwohl ich es nicht verstehe, kann ich es spüren. Vermutlich ist er auch der einzige Mensch in diesem Gebäude, der sich darüber freut, dass ich nicht tot bin.
Ich hebe die Hand, um die Soldaten auf Abstand zu halten, die auf mich zustürzen, als ich die Tür öffne. Es ist unfassbar anstrengend, nicht zu zittern, während ich mir den Schweiß von der Stirn wische, aber ich werde mir nicht gestatten, Schwäche zu zeigen. Diese Männer sind nicht um meine Sicherheit besorgt; sie wollen nur sensationsgierig bestaunen, was aus mir geworden ist. Wollen sich daran ergötzen, dass ich offenbar doch angreifbar bin. Aber mir steht nicht der Sinn danach, mich begaffen zu lassen.
Ich habe meine Rolle als Anführer zu erfüllen.
Ich habe eine Schussverletzung; ich werde nicht daran sterben. Es gibt Dinge zu regeln; ich werde sie regeln.
Die Verletzung werde ich ignorieren.
Den Namen des Mädchens werde ich nicht aussprechen.
Meine gesunde Hand ballt sich zur Faust und löst sich wieder, während ich zum L-Raum gehe. Mir ist noch nie zuvor aufgefallen, wie lang diese Flure sind und wie viele Soldaten hier Wache stehen. Es gibt kein Entkommen vor ihren neugierigen Blicken und ihrer sichtbaren Enttäuschung darüber, dass ich überlebt habe. Ich muss sie nicht einmal ansehen, um zu wissen, was sie denken. Und da ich ihre Gefühle kenne, bin ich umso entschlossener, möglichst lange am Leben zu bleiben.
Ich werde keinem von denen die Genugtuung verschaffen, vorzeitig zu sterben.
»Nein.«
Zum vierten Mal lehne ich Tee oder Kaffee ab. »Ich nehme keine koffeinhaltigen Getränke zu mir, Delalieu. Wieso lassen Sie die immer wieder zu den Mahlzeiten servieren?«
»Vermutlich, weil ich immer noch hoffe, Sie könnten sich umstimmen lassen, Sir.«
Ich schaue auf. Delalieu lächelt wieder so seltsam und unstet. Ich bin mir nicht sicher, aber
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