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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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völlig überhitzt und überdreht. Als ich vor zwanzig Jahren lernen musste, mit der Schwerstbehinderung zu leben, merkte ich irgendwann, dass es nichts Elementareres gibt, als ein menschliches Gegenüber zu haben. Die Einsamkeit in unseren individualistischen Gesellschaften ist das Schlimmste.
     
    EvT : Nicht die Brüderlichkeit, sondern die Autonomie gilt als das kostbarste Gut des modernen Menschen in diesen individualistischen Gesellschaften. Was bedeutet sie Ihnen?
     
    PdB : Autonom zu sein macht einen auch einsam und hilflos. Insofern halte ich die Autonomie für eine Absurdität. Wenn man, wie ich, durch die körperliche Unbeweglichkeit an der üblichen Selbstbestimmung gehindert ist, merkt man: Das Glück besteht im Austausch mit dem anderen Menschen.
     
    EvT : Jean-Paul Sartre wäre nicht einverstanden mit Ihnen, er sagte, die Hölle, das seien die anderen.
     
    PdB : Das ist Bullshit. Ich habe Sartre als junger Mensch lange geschätzt. Aber das hat sich geändert. Ich lese lieber Camus. Er hat verstanden, dass sich die Absurdität unserer modernen Existenz erst ändert, wenn man die Würde sozial herstellt. Die Würde verwirklicht sich erst im Teilen mit anderen.
     
    EvT : Die moderne Gesellschaft bietet mit der Einsetzung individueller Rechte aber auch Schutz vor Gewalt.
     
    PdB : Gewiss. Diese Qualität der Moderne muss geschützt werden. Aber die Bereitschaft der Menschen, einander beizustehen, muss desgleichen geschützt werden. Man fühlt sich auf Dauer nicht wohl dabei, anderen etwas mit Gewalt wegzunehmen, das einem nicht zusteht.
     
    EvT : Gewalt gibt es allerdings auch unter Brüdern, und ein Gesetz, das ihnen übergeordnet ist, kann nicht schaden: Kain hat Abel brüderlich den Schädel eingeschlagen.
     
    PdB : Die beiden waren Brüder, aber nicht brüderlich. Brüderlichkeit bedeutet Respekt vor dem anderen Menschen.
     
    EvT : Sind Ihnen die Freiheit und die Gleichheit, die beiden anderen der drei idealen Schwestern der Französischen Revolution, nicht so wichtig?
     
    PdB : An Freiheit fehlt es in unseren liberalen Gesellschaften nicht, sie bahnt sich ihren Weg überallhin, sie braucht meine Unterstützung nicht. Und die Gleichheit: Wenn man so verschieden, so anders ist, wie ich es bin, geht einem vielleicht der Sinn für Gleichheit ein wenig verloren. Ich finde es sinnvoller, aus den Verschiedenheiten der Menschen den gesellschaftlichen Reichtum zu gewinnen.
     
    EvT : Brüderlichkeit, sagen Sie, sei der einzige Reichtum, für den es zu kämpfen lohnt. Was soll das für ein Reichtum sein? Wir sind an anderen Wohlstand gewöhnt.
     
    PdB : Ich sitze hier vor Ihnen wie eine Karikatur des Bedürfnisses nach Brüderlichkeit. In totaler Abhängigkeit von anderen. Wenn Sie mir helfen – und es geht ja gar nicht anders –, gebe ich Ihnen dafür vielleicht die Erfahrung von etwas Sinn, eine Öffnung zu etwas Neuem, zu einem anderen Blick auf den Menschen, zum Umgang mit der eigenen Angst. Ich wünsche den Menschen eine Abhängigkeit in aller Freundlichkeit, denn wir können ja auf freundliche Weise voneinander abhängen, nicht bloß gewaltsam. Es gibt kein Geben ohne Nehmen.
     
    EvT : Man würde sich freiwillig in Abhängigkeit begeben?
     
    PdB : Aus gesundem Menschenverstand. Die Alternative heißt Gleichgültigkeit. Sie führt in die Einsamkeit und kann jeden erwischen. Die Menschen wollen die Antagonismen nicht mehr. Eine Studie hat vor kurzem gezeigt: Zwei Drittel der Franzosen wollen heute eine Versöhnung der Gegensätze, es soll Schluss sein mit den dauernden Konflikten. Die Politik hat das noch nicht verstanden.
     
    EvT : Dann hätte also Karl Marx geirrt, als er sagte, die Brüderlichkeit sei ein Trug, sie werde doch bloß beschworen, um unhaltbare Klassengegensätze zu übertünchen? So dass es Brüderlichkeit für die armen Teufel gebe, Geld hingegen für die anderen, die ohnehin fein raus sind.
     
    PdB : Der gute Marx! Nett, dass Sie an ihn erinnern. Nein, er irrt nicht. Er hat ja ganz recht. Die Sache funktioniert nur, wenn angemessen geteilt wird, sonst ist Brüderlichkeit eine Chimäre. Aber Marx ist für mich doch wie ein ferner Gefährte aus meinem früheren Leben. Ich würde heute sagen, die wirtschaftliche Effizienz muss sich mit der Freundlichkeit versöhnen. Wie das im Einzelnen geht: Das wäre das nächste Buch, das zu schreiben wäre. Zuerst einmal aber soll der Wunsch danach in die Welt, der Widerstand. Es ist doch wichtig, sich zu widersetzen, oder?
     
    EvT : Ein

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