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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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Es heißt zunächst einfach, dass Privilegien nicht gerechtfertigt sind, wenn man sie nicht verantwortlich für alle einsetzt. Sie sind in meiner Vorstellung – ziemlich protestantisch – untrennbar mit Pflichten verbunden. Das gilt auch für einen reichen Behinderten wie mich, der hat dann eben die Pflicht, seine Kraft für die anderen einzusetzen. Übersetzt in die Welt des Unternehmens: Die Chefs und die leitenden Angestellten sind diejenigen, die man nicht aus der Verantwortung entlassen kann, sie haben das Privileg von Ausbildung und Auskommen, sie sind verpflichtet, der Gesellschaft etwas davon zurückgegeben. Als Unternehmer habe ich diese Leute früher am stärksten in die Pflicht genommen.
     
    EvT : Lässt sich denn in den Zeiten der Finanzkrise an diese Vorstellung von Verantwortlichkeit noch anknüpfen?
     
    PdB : Die Dinge liegen heute anders. Heute ist jeder ein Gejagter, von dem in kürzester Zeit schier unmögliche Ergebnisse erwartet werden, ob nun als Arbeiter, Angestellter oder Vorgesetzter. Heute geht der Druck nicht mehr von den Chefs, sondern von den Aktionären aus. Das macht die Sache so kompliziert.
     
    EvT : Ins Politische übersetzt: Wie müsste die Arbeitsteilung zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen aussehen, um die Zerbrechlichkeit ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken?
     
    PdB : Ich schätze den Begriff Subsidiarität sehr, der in der europäischen Politik üblich ist. Das heißt: Man löst die Probleme von unten nach oben. Die französische Methode jedenfalls ist verkehrt, von oben nach unten helfen zu wollen. Man sollte immer in der kleinsten möglichen Einheit ansetzen, die handeln kann, also möglichst lokal. Wenn das nicht gelingt, kann man auf die unmittelbar nächsthöhere Stufe wechseln und so Schritt für Schritt weiter nach oben gehen. Der Staat muss in allen Zweifelsfällen garantieren, dass es keinem Zerbrechlichen an Unterstützung fehlt.
     
    EvT : Welche Rolle käme all denen zu, die aus der sogenannten Norm fallen?
     
    PdB : Sie können die Aufgabe des Aufklärers übernehmen. Sie können zu erkennen versuchen, was andere noch nicht sehen. Wenn man in Widrigkeiten gefangen ist, wie ich es bin, schweift der Blick oft in die Weite. Die Klarsichtigkeit der Menschen, die aus der Norm fallen, ist vielleicht geeignet, Augen zu öffnen. Aber ich bin mir nicht sicher, denn ich selbst bin so anders als andere, dass ich nicht weiß, ob ich noch mit der Wirklichkeit der anderen in Übereinstimmung bin. Ich hoffe es.

DAS VOLK DER UNBERÜHRBAREN
     
    Der Film Ziemlich beste Freunde , 2011 von den Regisseuren Olivier Nakache und Éric Toledano gedreht, erzählt auf brillante und humorvolle Weise die Geschichte zweier Menschen, die beide – der eine sozial, der andere körperlich – mit einer Beeinträchtigung leben.
    Der Film geht allerdings nicht weiter darauf ein, dass die Straßen voller behinderter Menschen sind.
    Dabei ist das die reine Wahrheit: Behinderungen sind von erschreckender Normalität.
     
    Die Ursache, die Art und der Grad der Beeinträchtigung sind extrem unterschiedlich, doch eine Behinderung bringt immer Anpassungsmaßnahmen mit sich und hat weitreichende Konsequenzen für den Betroffenen und sein Umfeld.
    Sprechen wir zunächst von körperlicher Behinderung, die in den meisten Fällen nach außen hin sichtbarer ist.
    Zwölf Millionen Franzosen sind davon betroffen, 1 ein Viertel der Bevölkerung. Das heißt also, dass Sie diese Woche auf dem Weg zur Arbeit, zum Bäcker oder zur Schule Ihrer Kinder höchstwahrscheinlich an einer Frau oder einem Mann vorbeigekommen sind, die eine motorische oder sensorische Behinderung haben. Eine Frau, die mit einer großen dunklen Brille auf der Nase und einem weißen Stock in der Hand durch die Gegend geht, ein junger Mann mit Helm auf dem Kopf, der einen elektrischen Rollstuhl bedient, zwei aufgeregte Jugendliche, die sich wild gestikulierend, aber ohne Ton eine Geschichte erzählen.
    Vielleicht haben Sie auch den pummeligen Jungen an der Bushaltestelle bemerkt, der den Kopf schüttelt und dabei unverständliches Zeug redet. Gut möglich, dass Sie sich in diesem Moment leicht verstört von einem der 900.000 Menschen mit geistiger Behinderung in Frankreich 2 abgewandt haben. Das sind in etwa so viele Personen wie die, die an Alzheimer leiden (880.000).
     
In Deutschland lebten im Jahr 2010 laut Statistischem Bundesamt etwa 8,7 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung. Bezieht man diese Zahl auf die

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