Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Großvater von Ihnen war im Widerstand gegen die Nazis, der Champagner-Magnat Robert-Jean de Vogüé. Sie betrachten ihn, wie Sie einmal geschrieben haben, als Ihr Vorbild, sein Buch Alerte aux patrons (dt.: Chefalarm ) ist unverändert Ihre Lieblingslektüre. Leider kann man das Buch nicht mehr bekommen, was steht denn drin, das heute für die Erneuerung der Gesellschaft von Belang ist?
PdB : Mein Großvater wurde 1943 verhaftet, zum Tode verurteilt und ins Konzentrationslager Ziegenhain gebracht, in einer dieser geheimen sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktionen, bei denen politische Gegner der Nazis spurlos verschwanden und dann auf die Hinrichtung warteten. Mein Großvater wollte eben einige der Dinge nicht tun, die die deutschen Besatzer von ihm erwarteten. Er wurde gemeinsam mit dem Chef der kommunistischen Gewerkschaft CGT deportiert, den er gut kannte, und die beiden haben in der Gefangenschaft einen Pakt geschlossen, mit dem das Buch meines Großvaters beginnt: Wenn wir lebend zurückkommen, begründen wir ein Sozialsystem, das sich aus den Ideen des Widerstands nährt, des Programme du Conseil national de la Résistance. In den Unternehmen sollten die Arbeiter an den Entscheidungen und an den Gewinnen teilhaben, die Unternehmensführung sollte sich mit den Gewerkschaften einigen, die Unternehmerherrschaft von Gottes Gnaden sollte zu Ende sein. Ein Konsensmodell, ähnlich dem deutschen.
EvT : Ihr Großvater hat es in seinem eigenen Unternehmen realisiert?
PdB : Sofort nach der Rückkehr. Man sollte sich das nicht als Kleinigkeit vorstellen: Noch eine Generation zuvor waren Hungeraufstände der Winzer in der Champagne durch das Militär niedergeschlagen worden, die von den Eigentümern gerufen worden waren. Ein mächtiges Großbürgertum hatte den Weinbau beherrscht, die Arbeiter verdienten wenig. Nach 1945 hat mein Großvater in seinem Unternehmen die Mitbestimmung eingeführt und verfügt, dass die Champagner-Häuser mit den Winzern zusammen jedes Jahr einen garantierten Preis für das Kilo Weintrauben aushandeln mussten. Dieses neue Unternehmensmodell und die Organisation der Champagnerindustrie haben aus dem Unternehmen meines Großvaters innerhalb einer Generation die weltweit erfolgreichste Luxusmarke und aus der Champagne die reichste Region Frankreichs gemacht. Die gesamte Champagne blühte auf, jeder hatte teil am Reichtum. Einfach, weil man sich verständigen und einigen musste.
EvT : Einfach? Das klingt revolutionär.
PdB : Nein, auch dies war eine Frage des gesunden Menschenverstands. Im Grunde rein pragmatisch. Qualität entsteht nur so. Sogar vernünftige Marktpreise entstehen nur auf diesem Wege: durch sozialen Frieden, durch die Einigung aller Beteiligten.
EvT : Haben Sie Ihren Großvater noch gut gekannt?
PdB : Wir waren uns sehr nah. Er konnte mit mir viel anfangen, weil ich der antibürgerliche Rebell unter seinen Enkelkindern war. Seit ich 16 Jahre alt war, habe ich die Wochenenden bei ihm verbracht, wir haben immerzu über Politik geredet. Er war ein religiöser Mensch, das bin ich nicht …
EvT : … als Sie das vorhin sagten, wollte ich Sie nicht unterbrechen, aber jetzt frage ich doch nach: Sie sind nicht religiös, nie gewesen?
PdB : Nein. Ich bin nicht gläubig. Für mich gibt es Gott nicht, es gab ihn nie. Aber mein Großvater war ein Christ mit einem starken Glauben, er wollte die Botschaft Christi in der Gesellschaft verankern. Er war ein Mensch der Tat, des Glaubens und des Geistes. Diese Mischung hat mich sehr beeindruckt, denn für mich waren das unüberbrückbare Widersprüche.
EvT : Und wenn Sie an den biblischen Gott nicht glauben, was ist mit jenem Jesus, auf den Ihr Großvater setzte?
PdB : Das ist etwas anderes. Ich bin ein großer Anhänger von Jesus. Was für ein Mensch! Er hat alles Bestehende umgekehrt, bis zu seinem eigenen Ende. Seine Botschaft der Güte, der Großzügigkeit, des Erbarmens ist unübertroffen. Dagegen ist der gute Karl Marx nur ein Winzling. Aber ich möchte Ihnen die Geschichte vom Buch meines Großvaters fertig erzählen. Er hat dieses Buch seinen Enkeln gewidmet: auf dass es weitergehe. Er meinte damit, dass wir das Handeln als soziale Unternehmer und Bürger fortsetzen sollten. Ich habe für mein erstes Buch auch diese Widmung gewählt: auf dass es weitergehe, im Sinne einer solidarischen Gesellschaft.
EvT : Was heißt es für Sie, heute im Sinne Ihres Großvaters weiterzumachen?
PdB :
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