Madrapour - Merle, R: Madrapour
KAPITEL 1
13. November.
Ich schreibe diese Geschichte zur gleichen Zeit, wie ich sie erlebe. Von Tag zu Tag. Oder vielmehr – um bescheidener zu sein – von Stunde zu Stunde. Wir wären überhaupt gut beraten, in jeder Minute, die vergeht, eine Welt festzuhalten. Uns stehen nicht so viele Minuten zur Verfügung. Das längste Leben läßt sich in Sekunden ausdrücken. Wenn Sie nachrechnen, kommt eine Zahl heraus, die nichts Astronomisches an sich hat und auch nichts sonderlich Beruhigendes.
Während ich dies schreibe, bin ich noch außerstande, das Ende meines Abenteuers abzusehen. Ich vermag auch seine Bedeutung nicht zu erfassen. Obwohl ich durchaus Hypothesen wage.
Meine Geschichte wird sicherlich einen Abschluß finden, und wäre es nur der naheliegendste. Ungewiß ist aber, ob sie einen Sinn hat oder – was auf dasselbe hinausläuft – ob ich fähig bin, einen Sinn in ihr zu erkennen: »Eine Eintagsfliege, die bei Sonnenaufgang zur Welt kommt und bei Sonnenuntergang stirbt, ist nicht in der Lage, das Wort Nacht zu begreifen.«
Als mich das Taxi am Flughafen Roissy-en-France absetzt, erwartet mich eine Überraschung. Alles ist leer. Keine Reisenden, keine Angestellten, keine Hostessen. Ich bin allein, mutterseelenallein in diesem Monument aus Metall und Glas, wo eine Grabesstille herrscht. Ein absurder Vergleich: mit seinen riesigen Glasflächen sieht Roissy eher wie ein überdimensionales Treibhaus aus.
Ich stelle meine Koffer auf einen Handgepäckwagen und schiebe ihn in dieser erleuchteten Wüste vor mir her. Im selben Moment wird mir bewußt, wie grotesk es ist, meinen irdischen Gütern auf diese Weise das Geleit zu geben, obwohl kein Mensch sie abfertigen kann.
Nicht daß ich noch hoffte, nach Madrapour zu fliegen. Doch suche ich wenigstens jemand, um mich zu erkundigen. Ich mache mir nur deshalb die Mühe, mein Gepäck vor mir her zuschieben, weil ich es nicht unbeaufsichtigt in einer Ecke stehenlassen will. Ein Zeichen dafür, daß mich die Verblüffung etwas durcheinandergebracht hat: Diebe meiden entvölkerte Flugplätze.
Ich bin mir klar darüber, daß die Leere und die Stille des Flughafens mir allmählich eine leichte Angst einflößen – wenn Angst überhaupt leicht sein kann. Wie soll ich es verstehen, daß sich niemand außer mir in Roissy befindet, das so offensichtlich dafür geschaffen ist, große Menschenmengen aufzunehmen? Angenommen, eine unvorhergesehene Arbeitsniederlegung wäre dazwischengekommen und die Flüge wären annulliert oder nach Orly umgeleitet worden – wo sind die Passagiere, die wie ich von dem plötzlichen Streik betroffen sein müßten? Wo sind die Streikenden, die Nichtstreikenden, die Polizisten, die Angehörigen der CRS 1 , das Bodenpersonal, das Personal der Snackbars, der Boutiquen, die Schalterangestellten? Und wie soll man sich auch nur einen einzigen Augenblick lang vorstellen, daß die Maschinerie von Roissy-en-France zum Stillstand kommen und in Schlaf fallen könnte?
Meine Beklemmung wächst angesichts der recht eigenwilligen Architektur, die ich hier vorfinde. Ich bin zum erstenmal in Roissy, und eines versetzt mich in Erstaunen: das Flughafengebäude, das zu funktionellen Zwecken gebaut worden ist, wie ich vermute, scheint gleichzeitig so konzipiert zu sein, einem das Gefühl der Unendlichkeit zu vermitteln.
Das Gebäude hat, weil es rund ist, weder Anfang noch Ende. Von dem leeren Rund in der Mitte führen gläserne Tunnel, die mit Laufbändern ausgestattet sind, zur oberen Etage. Diese lichtdurchfluteten Gedärme, die dazu bestimmt scheinen, die Reisenden zu verdauen, sind als »Satelliten« bezeichnet.
Aber von Reisenden keine Spur. Nachdem ich das leere Rund zu ebener Erde zweimal abgelaufen bin, ohne auf einen Menschen zu stoßen, wage ich mich mit meinem Handgepäckwagen in einen dieser »Satelliten«. Mir ist seltsam zumute: ich habe den Eindruck, eines der riesigen Karussells auf dem Rummel zu besteigen, die einen ganz plötzlich nach unten schleudern, um einem Schauer über den Rücken zu jagen.Doch nein: ich komme wohlbehalten auf der oberen Etage heraus. Und dort wiederhole ich, was ich unten schon getan habe. Auf der Suche nach einem menschlichen Wesen umkreise ich den leeren Innenraum mit seinen »Satelliten«.
Ich laufe wiederum zweimal das ganze Rund ab. Mich packt eine Trostlosigkeit, wie sie vielleicht ein Hamster empfinden mag, der in seinem Käfig endlos in die Speichen seines kleinen Rades tritt.
Ich bleibe stehen. Ich bin
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