Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Erfahrung hat uns gelehrt, dass das Annehmen der eigenen Schwäche zu jener Erfüllung verhelfen kann, nach der so viele von uns suchen.
GELD – EIN WICHTIGER, ABER NICHT
DER WESENTLICHE FAKTOR
Nach dem Filmstart von Ziemlich beste Freunde kam in Frankreich eine heftige Debatte in Gang. Eine Frau schickte einen empörten Leserbrief an die christliche Zeitung La Croix . Sie behauptete, wenn man finanziell so privilegiert sei wie Philippe Pozzo di Borgo, sei es ein Leichtes, auch mit Behinderung zu neuer Lebensfreude zu finden. Kurz, Geld mache zwar nicht glücklich, trage aber in hohem Maße zum Glück bei.
Sie machte die Öffentlichkeit zu Recht auf die Bedeutung einer finanziellen Entschädigung aufmerksam.
Obwohl der Status von behinderten Menschen in vielen Ländern gesetzlich geregelt ist, müssen diese oft einen langen und beschwerlichen Weg zurücklegen, bis sie die für ihr materielles Überleben nötigen Zuwendungen erhalten. Am Ende sind sie oft erschöpft, mutlos und manchmal verbittert. Wenn man einem nahestehenden Menschen nur unter großen Anstrengungen zu einem anständigen Leben verhelfen kann, fühlt man sich leicht im Stich gelassen und findet es nahezu unerträglich, andere vom besonderen Wert und den Möglichkeiten behinderter Menschen reden zu hören.
Tatsächlich darf nicht verschwiegen werden, dass eine Behinderung zum Teil kostspielige Anpassungen für ein barrierefreies Leben erforderlich macht. Staatliche Investitionen sind unverzichtbar, um die Verletzlichkeit wieder ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken. Die Beteiligung der öffentlichen Hand äußert sich nicht nur in der Höhe der Beihilfen und der Anerkennung der unterschiedlichen Formen von Behinderung. Sie drückt sich ebenso in anderen Dingen aus, wie etwa barrierefreier Zugänglichkeit, zum einen zu physischen Orten, zum anderen aber auch im Sinne einer möglichen – auch beruflichen – Wiedereingliederung. Man muss nicht im Rollstuhl sitzen, um zu merken, wie unsere Städte einem das Leben schwermachen können! Wer einen Kinderwagen schiebt, wer sich mit Gepäck beladen oder mit Gehhilfen fortbewegt, begreift sehr bald, wie schwierig oder gar gefährlich es ist, eine Straße zu überqueren oder eine Treppe hochzukommen. Auf dem Mond landen können wir, aber Fahrstühle – für Personen mit eingeschränkter Mobilität meist die einzige Möglichkeit, zu ihrer Wohnung, zu U-Bahn-Stationen oder in die oberen Stockwerke von Kaufhäusern zu gelangen – sind regelmäßig außer Betrieb, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind!
Nach den Bestimmungen des Behindertengleichstellungsgesetzes ( BGG ) ist der Bund verpflichtet, barrierefrei zu bauen. Dies gilt für zivile Neubauten sowie große zivile Um- oder Erweiterungsbauten des Bundes. Doch immer noch sind die Städte zum Teil nicht barrierefrei. Oft werden Umbauten mit Verweis auf den Denkmalschutz und auf hohe Kosten abgelehnt.
Staatliche Unterstützung hat auch positive Auswirkungen auf die Wirtschaft. In den Lebensgemeinschaften des Vereins Simon de Cyrène, die 2009 in Vanves im Département Hauts-de-Seine eröffnet wurden, arbeiten vierzig Menschen. Finanziert wurde ihre Anstellung aus Wohnbeihilfen, einem Darlehen beim staatlichen Finanzinstitut CDC (Caisse des Dépots) und durch Spenden von Privatpersonen. Insgesamt sind laut Jean-Louis Laville, Professor am Conservatoire national des arts et métiers, etwa 10 Prozent aller Angestellten in Frankreich in der sogenannten sozialen und solidarischen Ökonomie sowie in sozial engagierten Unternehmen beschäftigt. 9
Im Übrigen ist es auch aus unternehmerischer Sicht langfristig sehr viel sinnvoller, auf Mensch und Umwelt Rücksicht zu nehmen.
So mahnt Bertrand Collomb, langjähriger Chef des weltweit führenden Baustoffherstellers Lafarge und Autor eines Buchs über die soziale Verantwortung von Unternehmen, 10 dass die Arbeitswelt wieder humaner werden müsse. Es gelte zu berücksichtigen, dass der Mensch Teil des Gemeinguts sei, das durch den Erfolg eines Unternehmens vermehrt oder durch seinen Misserfolg gemindert werde.
Sicherlich wird auch weiterhin Geld in Form von Spenden oder Zuschüssen erforderlich sein, um angemessene Lösungen für die Schwierigkeiten zu finden, die mit der Behinderung in all ihren Ausprägungen einhergehen.
Würde man jedoch die Unterstützung von Menschen mit Behinderung auf die finanzielle Entschädigung, mag sie auch noch so konsequent sein, reduzieren, hieße das, die
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