Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
schmeckt!
Unsere atemlose Jagd nach unserer Vision vom Glück, das Streben danach, endlich glücklich zu sein, hindert uns schlicht daran, den Augenblick wahrzunehmen. Er mag schrecklich schmerzhaft sein, wie Philippe betonte. Doch die Behinderung lehrt einen auch, dass man sich den Schwierigkeiten stellen kann, indem man sich in der Gegenwart verankert.
Sowohl die ehrenamtlichen als auch die bezahlten Helferinnen und Helfer, die mit uns zusammenarbeiten, erzählen uns oft, dass sie sich durch ihren Kontakt mit den behinderten Menschen der Spannung bewusst werden, die entsteht, wenn man ständig in Gedanken bei der Zukunft ist. Dieses aufreibende Hin und Her zwischen Gegenwart und Zukunft ist durchaus berechtigt und verständlich: Werde ich meine Stelle behalten? Soll ich heiraten? Soll ich das Angebot annehmen, ins Ausland zu gehen?
Die Zukunft wird dann allerdings nur als Einschränkung erfahren und vermittelt eine Angst vor Misserfolg. Im Kontakt mit behinderten Menschen erfuhren die Helfer jedoch, dass sie geliebt werden, unabhängig von ihren Plänen für die Zukunft oder ihren Leistungen in der Vergangenheit. Davon erzählt Pierre, der sein freiwilliges soziales Jahr bei der Arche absolvierte, wenn er über seine Begegnung mit Joëlle spricht, einem Mädchen mit Down-Syndrom:
Meine beiden Universitätsabschlüsse und mein Doktortitel waren Joëlle völlig egal. Diese Beweise für meinen Erfolg ließen sie kalt, doch in unserer Begegnung hatte ich das Gefühl, so geliebt zu werden, wie ich jetzt, in diesem Augenblick, bin, und habe einen Moment der Ewigkeit erlebt.
Eine Szene im Film Ziemlich beste Freunde hat Jean Vanier besonders tief beeindruckt, da er sie als Vision der Hoffnung für die Zukunft empfand. Darin sieht man François Cluzet, der den Querschnittsgelähmten spielt, und Omar Sy, seinen Pfleger, beide von hinten, wie sie das Meer betrachten. Sie reden nicht miteinander, schmieden keine Pläne, und dennoch macht das Bild ihre tiefe, aus ihrer Begegnung entstandene Verbundenheit deutlich.
BESTIMMTER BLICK
In einem Dokumentarfilm über den Alltag in Einrichtungen für geistig behinderte Kinder 15 fragt der Leiter der Einrichtung Fanny, die eine leichte kognitive Beeinträchtigung und eine geringfügige körperliche Behinderung hat: »Wo liegt für dich die Behinderung, Fanny? Was bedeutet sie für dich?«
Sie antwortet: »Im Blick der anderen.«
Für das Mädchen, das eine Förderschule besucht, liegt die Antwort auf der Hand. Durch ihre Behinderung kann sie nicht dem üblichen Bildungsweg folgen, aber selbstverständlich möchte sie trotzdem glücklich sein! Sie ist sich bewusst, dass die Blicke der anderen sie ausschließen und ihr die Beziehungen verwehren, nach denen sie sich sehnt.
Wir sprechen von jenem Blick, der verletzt und ausgrenzt.
Fannys spontane Antwort widerlegt die Meinung eines Drittels der Franzosen, die laut Umfrage davon überzeugt sind, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht merken, dass sie »anders« sind. 16 Demzufolge würden sie auch nicht merken, wenn man sie diskriminiert, und könnten also nicht darunter leiden. Die meisten Menschen mit einer kognitiven Einschränkung mögen zwar nicht alle Aspekte ihrer Behinderung erfassen, sie begreifen aber vollkommen, dass ihr Leben sich von dem der anderen unterscheidet.
Der Blick, der ausschließt, sieht nur die Beeinträchtigung. Den schleppenden Gang und die unkoordinierten Gesten von Patrice, der infolge eines Schädeltraumas nach einem Motorradunfall unter motorischen und kognitiven Störungen leidet. Claras starre Gesichtszüge. Oder die katastrophalen Noten von Pierre, dessen Lese-Rechtschreib-Schwäche ihn in der Schule benachteiligt.
Letztlich ist jeder von uns darauf angewiesen, dass man ihn auf andere Weise, mit einem freundlicheren Blick, betrachtet, damit er nicht auf seine jeweilige Behinderung reduziert wird.
Wir, die kaputten Typen – das betonten Philippe Pozzo di Borgo und Abdel Sellou immer wieder in Interviews –, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganze Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.
»Die größte Armut für einen Menschen ist es, unerwünscht zu sein und niemanden zu haben, der sich um ihn kümmert«, sagte Mutter Teresa.
Die seelische Not wird gelindert, wenn die Isolierung durchbrochen
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