Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Lösung im rein bürokratischen Rahmen zu suchen und den Betroffenen ihre Hauptantriebskraft, nämlich die Beziehungen zu anderen, zu entziehen. Davon erzählt eine junge Frau, Sophie, die von ihrer Versicherung eine hohe Geldsumme ausbezahlt bekam. Sophie zog in eine an ihre Behinderung angepasste Wohnung und bekam alle Unterstützung, die sie benötigte. Dennoch war sie nicht glücklich: »Zu mir kommen nur Menschen, die dafür bezahlt werden.« Es gab für sie keine kostenlosen Beziehungen mehr und keinen Austausch, der nicht auf einer professionellen Verpflichtung beruhte, und so war jedes Glücksgefühl verschwunden.
Für den, der aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, ist das Andere das einzig Wichtige.
Es gilt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen staatlicher Verantwortung und unserem eigenen Einsatz. Wir sollten uns davor hüten, Aufgaben an Institutionen abzuschieben, nur um nicht selbst mit unserer Angst vor Verletzlichkeit konfrontiert zu werden – also Alte ab ins Altersheim, Sterbende ins Krankenhaus, Behinderte in spezielle Einrichtungen, Menschen in sozialen Schwierigkeiten an den Rand der Gesellschaft. Die Situation wird verschlimmert durch eine Tyrannei der Normen, die verhindert, dass Menschen mit Behinderung in der Stadt Fuß fassen können. Wenn es zum Beispiel in Frankreich laut Gesetz in Gebäuden, in denen motorisch behinderte Menschen wohnen, Notausgänge an zwei Außenwänden geben muss, ist von vornherein klar, dass Häuser im Stadtzentrum diese Bedingung im Allgemeinen nicht erfüllen dürften.
Solch ein Gesetz gibt es in Deutschland nicht. Wenn Menschen mit Behinderung eine barrierefreie Wohnung finden, die ihren Bedürfnissen gerecht wird, können sie hier auch einziehen. Allerdings ist es schwierig, eine barrierefreie Wohnung zu bekommen, da der Bedarf – auch aufgrund des demographischen Wandels – höher ist als das Angebot.
Wenn ein Mensch mit Behinderung jedoch eine persönliche Assistenz benötigt, wird oft von den Sozialbehörden der Paragraph 13 des Sozialgesetzbuches XII herangezogen: Die ambulante Leistung wird dann abgelehnt, »wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist«. Daher müssen sich Menschen mit erheblichem Pflegebedarf immer wieder dagegen wehren, ins Heim gezwungen zu werden.
Diese Einschränkungen mögen gut gemeint sein, doch die Sorge um das Wohlergehen der Mitmenschen artet hier in Sicherheitszwang aus. So entfernen wir uns nur weiter von einer Gesellschaft, die der Verletzlichkeit wieder einen zentralen Platz einräumt.
Geld spielt zwar auch eine wichtige Rolle im Umgang mit der Behinderung, von wesentlicher Bedeutung ist jedoch unsere Bereitschaft, überhaupt mit der Verletzlichkeit in Berührung zu kommen.
MIT DER UNSTERBLICHKEIT ABRECHNEN
Ein Grund für die Verzweiflung, die Verletzlichkeit und Schwäche bei uns auslösen, mag darin liegen, dass unsere Gesellschaft der Illusion von Unsterblichkeit nachhängt. Behinderungen sind nicht anziehend! Sie künden vielmehr von einem körperlichen und sozialen Verfall, vor dem wir uns fürchten, als sei er ein Vorbote unserer eigenen Sterblichkeit. Milan Kundera sagt über unsere Ablehnung dieses Teils des Menschseins: »Sterblichkeit ist die elementarste menschliche Erfahrung, und trotzdem ist der Mensch nie fähig gewesen, sie zu akzeptieren, zu begreifen und sich dementsprechend zu verhalten. Er versteht es nicht, sterblich zu sein, und wenn er gestorben ist, versteht er es erst recht nicht, tot zu sein.« 11
Für den, der mit behinderten Menschen zu tun hat, gehört der Tod zum Alltag. Von uns dreien kann Jean Vanier am besten bezeugen, mit welcher Reife und welch tiefem Verständnis Menschen mit geistiger Behinderung an den Tod herangehen, obwohl man doch oft meint, sie würden sich gar nicht bewusst damit auseinandersetzen.
Seit der Gründung der Arche gab es viele Todesfälle, denen die Mitglieder stets mit Andacht und Aufmerksamkeit begegneten. Manchmal auch mit unerwarteter Heiterkeit, wie an dem Tag, als zwei Bewohner, Philippe und Jean-Louis, bei der Totenwache von ihrem Freund François Abschied nehmen wollten, den sie sehr liebten. Jean-Louis beugte sich zu ihm hinab, um ihn auf die Wange zu küssen. Dann drehte er sich zu Philippe um und rief überrascht: »So was, er ist ja ganz kalt!«
Lachend über diese Entdeckung gingen sie aus dem Raum, entzückt, dass sie
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