Zigeuner
Toulouse. Wenn es warm genug ist, um draußen zu schlafen, fahren wir wieder hin.«
»Weil das Leben eines Bettlers in Frankreich weniger katastrophal ist als das eines ausgestoßenen Habenichts in Osteuropa«, schrieb André Glucksmann in seinem Essay in der Tageszeitung Die Welt, säßen »in Rumänien zwei Millionen europäischer Bürger auf gepackten Koffern«. Der Philosoph hatte nicht Unrecht, wenn er Frankreich ein hohes Maß an Attraktivität attestierte. Spanien, Italien, Deutschland, keines dieser Länder übte auf die Tzigani in der Region Blaj eine solch starke Anziehungskraft aus. Trotz der rigorosen Abschiebungen. Dass einige Familien in den ersten Jahren nach Rumäniens Beitritt zur Europäischen Union tatsächlich als »Rotationseuropäer« ihre Haushaltskassen aufbesserten, indem sie hin- und herpendelnd in Frankreich Hunderte Euro an Rückkehrprämien mitnahmen, mochte die Zuneigung zu den Franzosen verständlich machen, vollends erklären jedoch nicht.
An einem milden Herbstsonntag traf ich mich mit Freunden auf einer sonnigen Caféterrasse zum Cappuccino, mit Lucian Mosneag und mit Claudiu Nicusan, dem rührigen Generalsekretär der Caritas Blaj und Direktor des örtlichen Radiosenders. Wie immer diskutierten wir die Themen, die wir schon seit Jahren diskutierten: die Entwicklung Rumäniens und die Zukunft der Zigeuner. Lucian war überzeugt, dass die Zukunft der rumänischen Roma nicht in den Fußgängerzonen und vor den Kirchenportalen Westeuropas liegen könne. Für einzelne Familien der 4000 Roma aus Blaj mochte es eine kurzfristige Lösung sein, ihren Lebensunterhalt zu erbetteln, eine Alternative zu produktiver Arbeit war das Heischen um Almosen für Lucian nicht. Claudiu Nicusan, der sich in der Caritas für die Integration der Roma engagierte, um potentiellen Auswandererfamilien im Land eine Perspektive zu eröffnen, ärgerte es, dass eine wirtschaftliche und moralische Reform Rumäniens zwanzig Jahre nach Ceauşescu kaum stattfand. Als Lokalpolitiker und Mitglied der noch jungen Bauernpartei litt er darunter, dass die zentralen Stellen in der Verwaltung noch immer von Altkommunisten besetzt und für neue Leute blockiert würden. »In der Wirtschaft wird alles dem Ziel untergeordnet, das Bruttosozialprodukt zu steigern«, so Claudiu. »Doch die Familien gehen vor die Hunde. Manche im Land scheffeln Millionen, während viele um das nackte Überleben kämpfen.«
Beiläufig fragte ich, weshalb es die Zigeuner aus Blaj nicht nach Deutschland zog, warum alle unbedingt nach Frankreich wollten? Claudiu und Lucian schauten mich an, als hätte ich aus irgendeiner Ahnungslosigkeit heraus den Nagel auf den Kopf getroffen. »Das ist die Frage, die wir uns bei der Caritas schon lange stellen. Wir überlegen und überlegen, doch wir finden keine Antwort.«
Aber ihr müsst doch eine Idee haben? Was sagen denn die Leute selbst?
Claudiu grübelte lange. Nicht darüber, was er sagen wollte, sondern was er als Verantwortlicher einer internationalen Hilfsorganisation sagen durfte. »Weshalb unsere Roma ausgerechnet nach Frankreich wollen, da fällt uns nur ein plausibler Grund ein. Die Franzosen sind gutgläubiger als Deutsche und Italiener. Naiver, würde ich meinen.«
Naiver? Wirklich?
»Ja, wirklich. Du musst bei den Franzosen nur den Eindruck erwecken, deine Freiheit sei von rumänischen Rassisten bedroht, und sie gehen für dich auf die Straße. Hier in Blaj haben französische Hilfsorganisationen gerade wieder reichlich Lehrgeld bezahlt. Sie glaubten, trotz unserer Warnungen, es sei ein gute Idee, Familien beim Wohnungsbau direkt finanziell zu unterstützen. Aber die haben nur das Geld kassiert und es gegen hohe Zinsen weiterverliehen.«
André Glucksmann trat nach den Abschiebungen rumänischer Roma aus französischen Vorstädten für deren Recht ein, als Nomaden frei umherziehen zu dürfen. »Das tragische Gesicht der Entwurzelung, das sind jene Umherirrenden, die man von einem wilden Camping zum nächsten jagte, womit man sie de facto des Rechts beraubt, zu reisen und zu betteln.« Mag sein, dass der Philosoph einer ganzen Ethnie einen Gefallen tut, wenn er für ihre Freiheit streitet, in europäischen Innenstädten dem Klischee des Bittstellers zu entsprechen. Irrig ist die Annahme, ein Freibrief zur Bettelei beschere den ärmsten Zigeunern ein solides Auskommen, baue Vorurteile ab oder fördere ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Vor zwei Jahren wurden in Wien und Rumänien siebzehn
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