Zigeuner
für die Zigeuner entwickelte.
Die Ursache des kriminellen Kreditunwesens lag für Angéla Kóczé darin, dass die Roma als Geringverdiener oder Sozialhilfeempfänger gar nicht erst bei einer Bank oder Sparkasse vorzusprechen brauchten. Ihre Chancen, ein Darlehn zu fairen Konditionen zu erhalten, tendierten gegen Null. »Wenn Kinder krank werden, oder wenn Beerdigungen, Hochzeiten oder kostspielige Familienfeste bezahlt werden müssen, landen die Leute bei den Wucherern«, so Angéla Kóczé. Die Geldverleiher kassierten dabei nicht nur drastisch überzogene Zinsen, sondern verdienten auch an auf Pump verkauften Lebensmitteln, Baumaterialien oder Fahrtickets in den goldenen Westen.
Wie ein Krake hatte sich ein System pseudofeudaler Zinsknechtschaft ausgebreitet, das ungezählte Familien in Armut und Abhängigkeit hielt. In rumänischen Dörfern wusste jeder von mafiösen Wucherern zu erzählen. Ob in Blaj, Copşa Mica oder in Sibiu, die Roma beklagten sich, verloren sich dabei jedoch in nebulösen Andeutungen. Jeder sprach von Leuten, von denen er gehört hatte, ohne Ross und Reiter zu nennen. Irgendwann verstand ich, dass das Verleihen von Geld und das Kassieren von Wucherzinsen nur die eine Seite des kriminellen Geschäfts war. Die andere Seite erschien weitaus düsterer und bedrohlicher. Denn reich wurden die Clanbosse nur, weil keine Ermittlungsbehörde ihre Geschäfte offenlegte und keine Justiz Anklage erhob. Die illegalen Geldgeschäfte florierten, weil die Kriminellen, mit jedem Forint, jeder Krone und jedem Lei, die sie borgten, zugleich die Saat der Furcht ausstreuten. Es war nahezu ausgeschlossen, dass sich betrogene Roma gegen die organisierten Betrüger aus der eigenen Ethnie zur Wehr setzten.
2010 grasten Schlepper die ärmsten Roma-Siedlungen rund um das rumänische Sibiu ab. Auch in Roşia tauchten sie auf. Im Unterdorf, wo kaum ein Zigan Arbeit hat, boten sie den Leuten an, arbeitsfähige Familienmitglieder nach Westeuropa zu bringen, wo es anständig bezahlte Jobs geben sollte. »Ein Mann versprach, er werde mir eine Arbeit als Erntehelferin in Deutschland verschaffen«, schimpfte Susanna Cimpoier. »Einhundert Euro verlangte er, um vorab die nötigen Papiere zu besorgen. Wir haben das Geld zusammengekratzt, aber der Kerl kam nie wieder.« Anderen Familien erging es ähnlich. Die Betrüger kassierten und verschwanden. Auf eine Anzeige hat nicht nur die Familie Cimpoier verzichtet. Erstens ist das Vertrauen der Roma in die staatlichen Apparate mehr als miserabel, zweitens würde keine rumänische Polizeibehörde nach den Betrügern fahnden, die drittens kein Gericht verurteilen würde. Zudem wusste jeder in Roşia, dass es höchst unklug war, gegen ausgekochte Kriminelle sein Recht einzuklagen. Man schluckte den Zorn herunter und schwieg.
Doch es gab Orte, wo sich in den Mauern des Schweigens feine Risse auftaten, wo die Roma bereit waren zu erzählen. In Rumänien allerdings nur unter einer Bedingung: Ausnahmslos allen Informanten musste ich versprechen, unter keinen Umständen ihre richtigen Namen zu nennen. Hatten mich im ungarischen Kálló die Magyaren darum gebeten, ihre Namen zu ändern, aus Angst vor kriminellen Roma, so waren es im rumänischen Cetatea de Baltă die Tzigani selber, die vor ihren Landsleuten Furcht hatten.
Cetatea de Baltă liegt im Tal der Târnava Mică, der Kleinen Kokel, eine halbe Autostunde nordöstlich von Blaj. Man erreicht das Dorf über die Landstraße 107, passiert Sancel, Sona und zuletzt die Weinberge von Jidvei, wo heute in großem Stil recht passable Weißweine produziert werden. In dem aufstrebenden Weingut hatten in den letzten Jahren über 1.500 Arbeiter eine Anstellung gefunden, darunter auch einige Tzigani. »Aber die stammen alle nicht aus unserer Gegend«, so Mailat Cornel, der einige Jahre als Vertreter der Roma im Rat der Gemeinde von Cetatea de Baltă saß. »Sie haben sich wegen der Arbeitsplätze im Weinbau hier angesiedelt.« Und weshalb suchen und finden die einheimischen Roma dort keine Jobs? »Achtzig Prozent der Männer leben die meiste Zeit des Jahres gar nicht hier, sondern in Frankreich.«
Von der stattlichen Repräsentanz des Weinguts aus, einem restaurierten ungarischen Adelsschloss oberhalb von Cetatea de Baltă, schweifte das Auge an sonnigen Tagen über die sanften Hügel des Kokellandes. In frostigen Wintermonaten hingegen versumpfte der Ort in grauem Nebel. Der Geruchsinn entlarvte den Dunst als Smog, als beißenden Rauch, der
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