Zigeuner
wohlhabende Roma verhaftet. Sie hatten achtzig ihrer Landsleute, darunter geistig und körperlich Behinderte, wie Vieh untergebracht und in Österreich zum Betteln missbraucht. Die Hintermänner sollen jeden Monat zwischen 20 000 und 30 000 Euro kassiert haben. Das österreichische Bundeskriminalamt sah in der professionellen Bettelei keinen Akt der Wahrnehmung eines freiheitlichen Grundrechts, sondern »eine dramatische Form des Menschenhandels und der Ausbeutung«. Während die Kitschburgen der Clanmafiosi um ein paar Stockwerke wuchsen, verspielten ihre Leibeigenen in den westeuropäischen Metropolen ihren letzten Rest an Würde. Von ziganem Stolz erst gar nicht zu reden.
Wie schwierig die Gratwanderung ist, sich von der Freigebigkeit der Mitmenschen abhängig zu machen und sich gleichzeitig den Sinn für den eigenen Wert zu bewahren, erfuhr ich an einem Ort, wo alljährlich Millionen Besucher alles Mögliche erwarten, mitunter sogar Wunder: in dem französischen Madonnenstädtchen Lourdes am Fuße der Pyrenäen. Pfarrer Lucian hatte nicht ausgeschlossen, dass auch Roma aus Blaj hier betteln würden. Dem war tatsächlich so.
Der Mai war jung und die Pilgersaison 2011 hatte gerade erst begonnen. In den meisten Hotels waren noch Zimmer frei, und ich hatte im Bon Pasteur, dem Hotel zum Guten Hirten, ein schlichtes Quartier mit Blick auf den Gave-Fluss bezogen. Mich durch den Dschungel kitschfrömmelnder Devotionalienläden kämpfend erreichte ich in zehn Gehminuten über die Avenue Peyramale und vorbei an der Pont Vieux den Heiligen Bezirk. In der Grotte von Massabielle war der Müllerstochter Bernadette Soubirous einst eine Lichtgestalt erschienen, die sich dem schwindsüchtigen Mädchen als die Unbefleckte Empfängnis, als die Gottesmutter Maria, zu erkennen gab. Am Abend meiner Ankunft unternahm ich bei sommerlichen Temperaturen noch einen Bummel zu der Quelle mit dem wundersamen Lourdeswasser. Auf dem Weg zur Grotte zählte ich mehr als vierzig rumänische Roma. Sie hatten sich an den Zugängen zum sakralen Terrain postiert, standen an den zentralen Kreuzungspunkten der Souvenirmeilen und hockten auf den Bürgersteigen, wo sie den Fußgängern weiße Plastikbecher für das Bettelgeld entgegenreckten. »S’il vous plaît, madame, s’il vous plaît!«, schmachteten junge Mütter mit flehenden Blicken und Säuglingen an der Brust. Väter wünschten ein unterwürfiges »Bonjour, le monsieur« und verpassten im gleichen Atemzug ihren quengelnden Kindern ein paar Kopfnüsse. Halbwüchsige Jugendliche baggerten Pilger von der Seite an, zupften an T-Shirts und Blusen und fingen sich in wenigen Stunden ein solches Quantum an Geringschätzung und Missachtung ein, das weniger abgehärteten Menschen für den Rest ihres Leben gereicht hätte.
Tags darauf las ich in der Lokalzeitung La Dépêche Hautes Pyrénées, dass der große Ansturm der Bettler der Stadt noch bevorstand. Der Lourder Polizeichef François Pouchan zeigte sich besorgt über das verstärkte Auftreten organisierter Banden, und Bürgermeister Jean-Pierre Artiganave beklagte wie schon die Jahre zuvor, dass die »Romains«, wie die rumänischen Roma politisch korrekt genannt wurden, die öffentlichen Räume okkupierten, die Gäste angingen und die Pilger einschüchterten.
Ich entdeckte Niculae Gori, der sich wie viele rumänische Roma Tarzan nannte, nur wenige Schritte von meiner Unterkunft. Mit seiner Frau Maria, den kleinen Töchtern Lutza und Lamaika und dem zweijährigen Sohn Ricardo saß er auf dem Trottoir neben dem Eingang zum Hôtel Saint François d’Assise. Ein paar Quadratmeter Straßenpflaster vor einem eisernen Rolltor markierten das Revier der Familie: ihren Bettelstammplatz, 2700 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort, der Siedlung Plopilior in Blaj. Vor gut einer Woche, nach achtundvierzigstündiger Zugreise, war die Familie in Lourdes angekommen. Übermüdet und mit dunklen Ringen um die glasigen Augen zog Tarzan ein ernüchterndes Fazit:
»Monnaie petit.«
Erst später begriff ich, dass Tarzans geringe Betteleinkünfte mit dem Standort der Familie zusammenhingen. Der Platz vor dem Hotel des Franz von Assisi war alles andere als optimal. Schnell war klar, dass die besten Plätze mit dem größten Publikumsverkehr von bestimmten Clans besetzt wurden.
Natürlich war die Freude über unser Treffen im ersten Moment groß, so groß, dass wir unseren gemeinsamen Freund Lucian an ihr teilhaben ließen. Ich wählte seine Telefonnummer in
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