Zigeuner
Rumänien und sagte ihm, ich hätte Tarzan in Lourdes getroffen, woraufhin Lucian nachfragte, welchen der Tarzans aus Blaj ich denn meine. Jedenfalls erzählte mir Tarzan, alias Niculae Gori, Pfarrer Lucian sei ein wahrer, ein guter, ein echter Freund, der ihm mit Geld bei der Renovierung seines Hausdachs geholfen habe. Das stimmte zwar vorn und hinten nicht, wie mir Lucian später versicherte, doch es erlaubte Tarzan, auch mich in den Kreis seiner »allerbesten Freunde« aufzunehmen, sollte ich mich als ebenso großherzig erweisen wie der Priester vom Heiligen Kreuz. Zwanzig Euro, meinte Tarzan, seien für einen Freund Lucians das Mindeste. Ich schenkte ihm einen Zehner, was einen abenteuerlichen Rattenschwanz an Bittgesuchen nach sich zog und dazu führte, dass meine Freude über die Begegnung mit Tarzan im Laufe der Zeit merklich abnahm. Keine zwei Stunden nach unserem ersten Treffen nahm er mich beiseite und führte als Zeichen des Hungers immer wieder die Finger zum Mund, während seine Frau Maria mir bedeutete, die Kinder hätten seit dem Morgen nichts gegessen. Als ich ablehnte zu zahlen, wollte sich Tarzan mein Mobiltelefon ausleihen, um seine kranke Mutter in Rumänien anzurufen und von ihr die Telefonnummern irgendwelcher reichen Leute zu erfragen, die ihm angeblich noch etwas schuldig waren.
Es ergab sich zwangsläufig, dass wir uns in der Avenue Peyramale häufiger begegneten. Nach zwei Tagen kannte Tarzans Bittstellerei kein Maß und keine Grenze mehr. Am nächsten Morgen erzählte er mir, er sei gerade auf dem Weg zum Bahnhof, und sein Zug fahre in einer halben Stunde. Um sehr wichtige Typen zu treffen, brauche er unbedingt Geld für eine Fahrkarte. Mittags plötzlich wollte er 50 Euro für ein Zugticket nach Montpellier, wo er eine Wohnung besitze, in der seine Familie endlich einmal ausschlafen und sich waschen müsse. Abends verlangte er Euros für den Nachtzug, weil die Familie den Zug am Nachmittag verpasst hatte. Dann wiederum jammerte Tarzan, weil ich ihm kein Geld für die Fahrkarte gegeben habe, habe er mit seinem Sohn Ricardo in Montpellier keinen Arzt aufsuchen können und benötige nun Geld für eine Behandlung in Lourdes. Ich verwies Maria an die Spitäler und Krankeneinrichtungen im Heiligen Bezirk, wo Ärzte den Jungen sicherlich kostenlos untersuchen würden, aber Maria und Tarzan erweckten nicht den Eindruck, als würden sie den Ratschlag beherzigen.
Obwohl Tarzan eine Schirmkappe mit dem Emblem der Lourder Rosenkranzbasilika trug, hatte er an der Lebensgeschichte der Bernadette Soubirous, den Marienerscheinungen und dem wundersamen Quellwasser an der Grotte offenkundig kein Interesse. Lourdes war ihm vollkommen egal. Die Madonnenstadt war lediglich eine Chiffre für die Anwesenheit vieler frommer Leute. Und viele fromme Pilger ließen auf eine hohe Bereitschaft zur Mildtätigkeit schließen. »Hoffnung, Großzügigkeit und Barmherzigkeit sind mit dem Namen Lourdes verbunden«, war in La Nouvelle République de Pyrénées zu lesen. Zugleich stellte die Zeitung fest, dass die Christen mit ihrer Gutherzigkeit die Stadt für rumänische Bettler immer verlockender machten. »Aus einem Rinnsal wurde ein Strom.« Nicht dass Menschen in Lourdes bettelten, beargwöhnte die Presse, sondern dass die Zahl der »Roumains« Jahr für Jahr über ein gesundes Maß hinaus anschwoll. Ende März, sobald die Hotels öffneten, tauchten die ersten Gruppen auf. In einem Verdrängungskampf unter den Ärmsten hatten die Rumänen nicht nur die französischen Bettler und Obdachlosen von ihren angestammten Plätzen vertrieben, sie hatten auch die Atmosphäre in dem Wallfahrtsort verändert. An der Alten Brücke gegenüber der Brasserie Jeanne d’Arc versammelten sich mittags vierzig, manchmal fünfzig Roma rund um die Sitzbänke auf einem kleinen gepflasterten Platz. Wenn die Pilger in ihren Pauschalhotels zu Tisch saßen, legten auch die Roma eine Bettelpause ein. Dabei nahmen sie die ganze Lokalität in Beschlag, so dass die frustrierte junge Eisverkäuferin in ihrem Verkaufswagen »La Gelataria, Depuis 1930« keinen einzigen Kunden mehr zählte.
»Die Leute werden allmählich sauer und wütend«, sagte Delphine Pereira, eine freundliche und zuvorkommende Journalistenkollegin. Sie leitete das kleine Redaktionsbüro des Lourder Dépêche und hatte feines Gespür für die Stimmung in ihrer Stadt. Jedes Jahr berichtete sie über die Zigeuner, wenn sich im August Tausende französischer Gitans mit siebenhundert
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