Zigeuner
Caravans zu ihrer großen Wallfahrt in Lourdes trafen. »Die Gitans kommen als Pilger und Freunde. Die rumänischen Roma nicht. Sie lassen ihre Kinder verwahrlosen und zwingen sie zum Betteln, selbst in der Nacht. Ihr Geld kassieren die Chefs. Natürlich ist das Betteln legal, und das soll es auch bleiben, aber hier macht eine Mafia Geschäfte mit Menschen.«
Tarzan und Maria sagten, sie würden nur für sich und nicht für einen Chef betteln. Ich denke, dass dies der Wahrheit entsprach. Nachts schleppten sie ihre übermüdeten Kinder zu einer überdachten Verladerampe am Güterbahnhof. Dort schlief die Familie unter einem Verschlag aus Pappe und Wolldecken, ohne dass sie von irgendjemandem behelligt wurde. Anders die fünfzehnköpfige Bettlergruppe, die nachts lärmend über die Avenue Peyramale stadtauswärts zog, wo sie in einem Wäldchen an der Gave lagerte. Angeführt wurde der Trupp von zwei Männern, die selbst nicht bettelten, den anderen jedoch morgens um neun, halb zehn ihre Standorte zuwiesen. Dann sah man sie erst am Abend wieder. Trotz der Hitze trugen sie schwarze Lederblousons, rauchten und tranken Kaffee mit Kognak in der Bar Jeanne d’Arc. Als ich die Bettler zu ihrem Lager begleiten wollte, reichten ein Blick und eine knappe Drohgebärde der Ledertypen, die mir signalisierten, schleunigst zu verschwinden. Ich hielt mich daran, was keine heldenhafte, womöglich aber eine kluge Entscheidung war.
In den neunziger Jahren hatte ich einige Male die traditionelle »Pèlerinage des Gitans« besucht und für einen Fotobildband längere Zeit in Lourdes verbracht. Ich mochte die Stadt, auch weil mich das so oft geschmähte Lourdes des scheinheiligen Kommerzes weniger empörte als amüsierte. Lourdes war für mich wirklich eine wundersame Stadt. Doch nicht die spektakulären Heilungen, die ab und an die Mediziner vor Rätsel stellen, machten das Wunder aus. Lourdes lebte nicht vom Mysterium unerklärlicher Phänomene. Das Wunder offenbarte sich darin, dass Menschen mit allen erdenklichen Leiden und Gebrechen hier nicht allein waren und nicht allein gelassen wurden. Lourdes lebte von den Blicken. Es lebte von den Gesten und der Zuwendung, die dort jene erfuhren, die wir gemeinhin nicht sehen. Hier schaute niemand weg, wenn ein Spastiker schrie, ein Debiler vor sich hin brabbelte oder das Gesicht eines Schwerkranken vom Tod gezeichnet war. Stets sah ich in den Blicken der Lourdespilger gegenüber den Kranken und Behinderten Gewogenheit, Wärme und Mitgefühl. Lourdes war ein Ort der antiquiertesten Form des Widerstandes, des Widerstandes des Herzens gegen die Herzlosigkeit.
Die rumänischen Roma wurden nicht von der Herzlichkeit ausgeschlossen, sie schlossen sich selbst aus. Paradoxerweise nicht weil sie bettelten, sondern weil ihre Art zu betteln das Wesen des Bettelns korrumpierte. Sie stellten die Dialektik von Geben und Nehmen auf den Kopf, bei der die Bedürftigen ihre Bedürftigkeit und die Mitfühlenden ihr Mitgefühl bekundeten. Was die Roma von den obdachlosen Bittstellern alten Schlages unterschied, war, dass sie kaum jemanden in ihrer Not berührten und bewegten. Die Roma wollten kein Mitleid, sie wollten Geld. Diese Einstellung mag verständlich sein, aber sie hatte auch Konsequenzen. Sie pervertierte den Akt des Gebens. Er entsprang nicht mehr dem Wunsch zu helfen, sondern dem Bedürfnis, der Aufdringlichkeit zu entrinnen. Im Grunde bettelten die Roma gar nicht. Ihre Strategie war es, zu nerven. Manchmal gewitzt und freundlich, oft devot, bisweilen unverschämt und giftig. Wer den Kindern ein paar Münzen zusteckte, tat dies in den seltensten Fällen aus Hilfsbereitschaft, sondern um die quengelnden Quälgeister loszuwerden.
Mitleid war für den Philosophen Artur Schopenhauer jene Empfindung, die dem Menschen ermöglicht, den Egoismus und die trennende Mauer zwischen Ich und Du zu überwinden. Die bettelnden Roma in Lourdes bewirkten das Gegenteil. Sie zerstörten das Mitleid. Sie rissen keine Mauern nieder, sie bauten sie auf. Dabei überraschte mich, dass ich auf Seiten der Pilger nie Ärger oder Wut auf die Zigeuner bemerkte. Höchstens Anflüge von Verstimmtheit. Die Rumänen ernteten in Lourdes keine Abscheu oder Verachtung. Und schon gar keinen Hass. In den Gesichtern der Gadsche stand nur ein stummes, schier grenzenloses Befremden.
Unbestritten ist es die Not, die Menschen zum Betteln zwingt. Doch bei den »Roumains« war das Betteln selber zur Not geworden. Die Kleinkinder, die schlaff
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