Zigeuner
aus«, sagt Mezei. Unübersehbar ist: In Barbu Liautiarul sind die Kinder wacher, heller und offener als in den anderen Roma-Vierteln in Blaj.
Dass die meisten Zigeunerkinder nicht lernbehindert, sondern nur lernverhindert sind, wissen auch die Pädagogen in der Šcoală Waldorf im rumänischen Roşia. Wer in dem gelben Schulpavillon in dem Karpatendorf unterrichtet, braucht sehr viel Hingabe, noch mehr Geduld und sehr, sehr starke Nerven. Es ist schon erstaunlich, wie acht Kinder im Raum der Klasse IV derartig viel Lärm machen können. Dabei fehlt fast die Hälfe der Jungen und Mädchen. Sie sind, wie die Lehrerin Camelia erklärt, »entweder erkältet oder mit ihren Vätern im Wald unterwegs«. Im Wald? Am Vormittag? »Ja, um Feuerholz für den langen Winter zu sammeln.«
Der Stundenplan sieht Rechnen vor. Der neunjährige David steht an der Tafel und versucht zu verstehen, dass sich die Zahl 280 aus zwei Hundertern und acht Zehnern zusammensetzt. Ansonsten hören nur Violeta und Christi den Erklärungen der Lehrerin zu. Einige Schüler klettern auf der Fensterbank herum oder werfen irgendwelchen Kram durch das Klassenzimmer, während sich ihr Kamerad Florin mit ungestümen Gesten in karateähnliche Scheingefechte hineinsteigert. In einer anderen Schule würde man den Jungen zur Abkühlung seines Gemüts wohl vor die Tür setzen. Aber die Romni Camelia lässt ihn gewähren. Sie weiß: »Gleich hat sich Florin ausgetobt.« Später holt der Junge sein Heft hervor. Es wird still in der Klasse, und die Kinder grübeln über ihren Aufgaben. Und David, der mit seiner riesigen Brille an Harry Potter erinnert, wird später bekunden, warum Camelia »die beste Lehrerin von allen« ist. »Weil sie immer alles hundert Mal erklärt und nicht schimpft, wenn wir nicht aufpassen.«
Seit einer Woche sind die Sommerferien zu Ende. Nach den langen Wochen in ihren Familien tun sich die Kinder aus Roşia schwer, sich wieder an den schulischen Alltag zu gewöhnen. Genauer gesagt, es sind nicht die rumänischen Kinder aus dem Oberdorf, die mit diszipliniertem Lernen ihre Schwierigkeiten haben, sondern die Jungen und Mädchen aus dem unteren Teil des Dorfes. Ihr Mangel an Konzentrationsvermögen, so erklärt die deutsche Schulleiterin Annette Wiecken, sei keineswegs Folge einer nachlässigen Alternativpädagogik, sondern Konsequenz des sozialen Hintergrunds der Kinder. In Roşia leben 1200 Tzigani. Dass sie nicht »Roma« genannt werden wollen, ändert nichts daran, dass die Kinder schon mit der Muttermilch die Einsicht aufsaugen, vom Leben nicht viel erwarten zu dürfen.
Mitte der neunziger Jahre lud eine rumänische Lehrerkollegin die Düsseldorferin Annette Wiecken nach Sibiu ein. Von dort aus besuchte die Waldorf-Pädagogin auch Roşia. »Ein Schock«, den Frau Wiecken schnell überwand, weil sie hier ihre Berufung fand. Ende der neunziger Jahre erhielt sie eine Anfrage des rumänischen Erziehungsministeriums. Es galt, zukunftstaugliche Konzepte bei der Alphabetisierung von Roma-Kindern zu entwickeln. Dabei waren die Hürden aus Ausgrenzung und Verwahrlosung ebenso zu überwinden wie die Gleichgültigkeit und das Misstrauen der Zigeuner in staatliche Bildungsanstalten. »Der Unterricht an den öffentlichen Schulen überfordert die Kinder«, so Annette Wiecken. »Viele scheitern schon in den ersten Klassen oder werden trotz Schulpflicht von ihren Familien gar nicht erst zum Unterricht geschickt. Um das zu ändern, haben wir einen Ort geschaffen, der einlädt, das Lernen zu lernen.«
Ein Ort, wie geschaffen für Mädchen wie Lili.
Lili war ebenso frech wie rotznasig, anrührend anhänglich und von umwerfend liebenswürdigem Charme. In einer feuchten Lehmkate ohne frisches Wasser und Toilette wuchs sie bei ihrer überforderten Mutter auf, zusammen mit acht oder neun Geschwistern, für die kein Mann die Pflichten als Vater übernommen hatte. Eigentlich hätte Lili regelmäßig die zweite Klasse besuchen sollen. Und eigentlich hätte sie mit dem Lernstoff keine Schwierigkeiten haben dürfen. Denn Lili machte einen vitalen und pfiffigen Eindruck. Im ersten Moment. Auf den zweiten Blick fiel auf, dass ihre Quirligkeit nicht unbedingt ein Segen war. Lili war ein fahriges Kind, das keine Ruhe fand. »Es fällt ihr schwer, sich länger als einen Augenblick auf eine Sache zu konzentrieren«, meinte Camelia. »Wenn sie etwas gelernt hat, vergisst sie es schnell wieder. Sie kann sich nicht gut erinnern.«
Lili genoss es, fotografiert zu
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