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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Plopilior im rumänischen Blaj. In der Schule, nur einen Steinwurf entfernt von Pfarrer Lucians Kirche, war ursprünglich ein gemeinsamer Unterricht für die Kinder der Roma und der Gadsche geplant. Doch von dem pädagogischen Konzept »Integration statt Ausgrenzung« blieb nichts übrig, seit die ethnischen Rumänen ihre Jungen und Mädchen nach und nach wieder abmeldeten. Heute bleiben die zweihundertundfünfzig Zigeunerkinder unter sich.
    Stecken dahinter rassistische Motive? »Sicher nicht«, sagt die Lehrerin Angela Mosneag. »Man muss die Eltern verstehen. Viele waren anfangs sehr bemüht und sozial eingestellt. Doch ihre Kinder wurden dauernd krank. Ständig kamen sie mit Läusen und Krätze nach Hause. Wer schickt sein Kind schon gern in eine Schule, wo ständig die Toiletten demoliert werden? Zudem war das Lernniveau so niedrig, dass der Ruf der Schule immer schlechter wurde.«
    Auch Ilie, Denis und Rafael gehen nicht mehr in dem Roma-Viertel zum Unterricht. Die Elfjährigen besuchen die katholische Schule im Zentrum von Blaj mit dem Namen Surisul Copiilor, »lächelnde Kinder«. Die Einrichtung wird von der Caritas betrieben und von kirchlichen Hilfswerken aus Westeuropa unterstützt. Sie gilt als vorbildlich. »Ich wollte nicht mehr nach Plopilior«, sagt Rafael. Er trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei des muskelbepackten Wrestlinghelden John Cena, der eine eiserne Kette zerreißt. Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass Rafael ein freundlicher, überaus ruhiger Junge ist. »In der Roma-Schule ist viel Geschrei und Streit. Brote, Stifte und Hefte, die anderen Kinder nehmen einem alles weg. Auch Geld. Davon kaufen sie sich Süßigkeiten«. Ilie und Denis bestätigen ihren Kameraden Rafael. Die drei Jungen sind Roma.
    Keine Lehrkraft hat so lange an der staatlichen Schule in Plopilior unterrichtet wie Angela Mosneag, die Ehefrau des griechisch-katholischen Priesters Lucian. Nach mehr als zehn Jahren gab sie auf. »Es war eine extrem harte und verschleißende Zeit. Danach war ich krank und ausgelaugt.« Seit ihrem Wechsel zu der Caritas-Schule findet die Pädagogin wieder Freude an ihrem Beruf. »Wenn wir hier in den Klassen einige Roma-Kinder aufnehmen, können wir uns intensiv um sie kümmern, und sie blühen auf. Anders ist die Integration nicht zu schaffen. Denn die Kinder lernen gern. Sie saugen alles Wissen auf, als hätte man ihnen jahrelang die Nahrung vorenthalten.«
    Die Lernschwierigkeiten werden zumeist gegen Ende der Grundschule offenkundig, wenn das Leistungsniveau steigt und das spielerische Lernen zusehends einem entsinnlichten und abstrakten Denken weicht. »Mit Rechenaufgaben wie einundzwanzig geteilt durch sieben haben viele Kinder enorme Probleme«, sagt Angela Mosneag. »In ihren Familien finden sie keine Unterstützung. Die meisten Eltern sind Analphabeten. Bei den Hausaufgaben können sie nicht helfen. In den Wohnungen ist es laut und eng. Der Fernseher läuft. Wie sollen Kinder da lernen, Aufgaben mit Konzentration und Ausdauer zu lösen?«
    Das ist in den Favelas von Rio, in den Slums von Nairobi oder den Plattensilos von Bukarest nicht anders. Die Bildungsmisere der Roma ist kein ethnisches, sie ist ein soziales Problem. Zwar steht in der Europäischen Union den Kindern das Recht auf Bildung zu. Es nützt jedoch wenig, wenn Armut und Fatalismus, aber auch bürgerliches Abgrenzungsgebaren und politische Sparblockaden verhindern, dieses Recht auch zu realisieren.
    Eine Zeitlang kursierten in Ungarn Zahlen, denen zufolge rund zwanzig Prozent der Zigeunerkinder zurückgeblieben und lernbehindert seien. Ein verhängnisvoller Irrtum mit verheerenden Auswirkungen. Auch der Budapester Soziologe und Kriminologe Szilveszter Póczik unterrichtete nach seinem Abitur Jungen und Mädchen, die als geistig gehandicapt eingestuft worden waren. »Wir Lehrer standen vor einer immensen Schwierigkeit«, so Póczik. »Es war kaum möglich zu entscheiden, ob ein Kind wegen einer organischen Erkrankung in seiner Entwicklung beeinträchtigt war oder ob ihm nur die soziale Kompetenz zum Besuch der Regelschule fehlte.« Ein Dilemma, nicht nur für Roma-Kinder. Intelligente Kinder aus verwahrlosten ungarischen Familien landeten ebenfalls in Förderschulen. Das Problem war für Póczik ein doppeltes. Durch einen Mangel an elterlicher Fürsorge fehlte es den Kindern an schulischer Reife. Anstatt diese Defizite zu kompensieren, gerieten schon die Erstklässler in die Mühlen eines rigiden Schulsystems, das eine

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