Zigeuner
die Zigeuner, dass ich ihre Kinder Pablito, Rudi, Sandokan oder Vandana taufe«, erzählt Lucian. So heißen die neuen TV -Helden. Ihre Funktion erschöpft sich nicht darin, ihr Publikum in wunschloser Apathie einzulullen. Sie wecken auch Begehrlichkeiten. Sie nähren die Sehnsucht, dazuzugehören, endlich in Europa zu landen, endlich anzukommen in der Ersten Welt. Dass diese Welt tatsächlich existiert und nicht nur als Inszenierung für den Bildschirm, beweisen jene Roma, die es geschafft haben. In jeder Siedlung gibt es Familien, denen der Sprung gelungen ist: von der Armut in den Reichtum, von der Bedeutungslosigkeit in Positionen relativer Macht, innerhalb der Hierarchie der eigenen Ethnie.
Reiche Aufsteiger, Patriarchen in Protzpalästen und synthetische TV -Helden mögen als Idole infantiler Bewunderung taugen, als Vorbilder dienen sie nicht. Doch gerade daran mangelt es den Roma, was sie selbst am meisten beklagen. Es hapert an positiven Lebensentwürfen, an Modellen für gelungene Mittelklasse-Biografien, die Kindern und Jugendlichen eine alltagstaugliche Orientierung bieten. Es fehlen lokale Führer, deren Blick über den Rand des eigenen Familienclans hinausragt; an geduldigen Lehrern, die zum Lernen motivieren; an Geschäftsleuten und Handwerkern, die Ausbildungsplätze schaffen; ganz zu schweigen von Akademikern, die sich mit ihrem Wissen gesellschaftliche Anerkennung erworben haben. Nicht, dass es solche Menschen nicht geben würde, doch ihre Zahl ist zu gering, als dass ihr Einfluss von Gewicht wäre.
Schon vor Jahren diagnostizierte der tschechische Roma-Aktivist Ivan Veselý unter den ziganen Eliten den Trend, »sich von der Mehrheit der Roma zu distanzieren, vor allem von jenen, die arm oder in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind«. Dass sich der Erfolgreiche vom Erfolglosen abgrenzt, ist keine allzu neue Einsicht. Das Problem ist laut Veselý auch ein anderes. »Roma, die den Aufstieg geschafft haben, verlieren oft die Hoffnung, etwas zur Verbesserung der Lage der Minderheit beitragen zu können.«
In einem Aufsehen erregenden Manifest distanziert sich der ungarische Wirtschaftsberater István Forgács radikal von seinem Volk. Jedoch nicht um sich loszusagen. Der Absolvent der Hochschule für staatliche Verwaltung in Budapest will seine Leute wachrütteln und knüpft sein Bekenntnis zur ziganen Identität an Bedingungen:
»Ich gehöre zu euch, sobald ihr versteht, dass die Nichtzigeuner die einzig mögliche Lösung für die gesamte ungarische Gesellschaft, vor allem aber für die Zigeuner sind. Ich sage das deshalb, weil die Nichtzigeuner über all die Ressourcen verfügen, auf die wir selbst auch angewiesen sind. Aber wir kommen an sie nicht heran, weil unser Vater oft genug die Sozialhilfe versäuft. Oder der Zinswucherer unsere Mutter verprügelt. Oder unsere große Schwester wegen der Schulden nach Holland verschleppt wird … So viele von euch verleugnen das, aber das ist der Grund, warum wir nicht zu den Ressourcen gelangen … Die Nichtzigeuner leiten die Städte, sie leiten die Schulen. Sie schaffen Arbeitsplätze, können Arbeitnehmer einstellen, Kredite gewähren. Sie können Häuser verkaufen oder vermieten – an denjenigen, an den sie wollen –, als Nachbar verleihen sie ihren Rasenmäher, wenn wir ihn brauchen. Sagt der gesunde Menschenverstand nicht, dass wir versuchen sollten, bestmöglich mit ihnen auszukommen?«
Wenn sich etablierte Zigeuner von ihren Wurzeln entkoppeln, steckt dahinter oft kein sozialdarwinistischer Egoismus, sondern eine Strategie des Überlebens, eine Schutzmaßnahme gegen die Gesetze der Familie und die Fesseln der Blutsverwandtschaft. Kein Bild versinnbildlicht dieses Verhalten anschaulicher als das der Krebse im Eimer. Die amerikanische Autorin Isabel Fonseca zitiert es in ihrem Buch Begrabt mich aufrecht. Auf den Spuren der Zigeuner. Fonseca beruft sich auf Ian Hancock, einen der bedeutendsten Roma-Gelehrten, der das Prinzip des »hamishagos« (was so viel heißt wie stören, in etwas hineinpfuschen) als die »Nationalkrankheit« der Zigeuner beklagte: »Sie bewirkt aus irgendeinem Grund, dass wir die eigenen Leute, die vorankommen, behindern wollen, statt ihnen zu helfen. Wie Krebse im Eimer. Wenn einer herauszuklettern versucht, klammern sich die anderen an ihn und ziehen ihn wieder herunter.«
Dem Gefängnis des Eimers zu entrinnen und die trennenden Barrieren der Ethnien zu überwinden war die Idee der staatlichen Grundschule in dem Stadtviertel
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