Zigeuner
Kinder solche Drohungen ungerührt hätte wegstecken können. Vitza überlegte ernsthaft, mit ihrer Familie Ungarn zu verlassen. Ich wusste, dass sie mehr an ihrer Heimat hing, als es vielleicht den Anschein hatte. Deshalb ahnte ich damals nicht, dass sie tatsächlich eines nicht allzu fernen Tages in Kanada um politisches Asyl bitten sollte.
Nach dem Doppelmord in Tatarszentgyörgy riet ihr ein Rechtsanwalt, als gefährdetes Mitglied des Europäischen Parlaments Personenschutz zu beantragen. Ein paar Monate standen Viktória und ihrer Familie zivile Bodyguards zur Seite, die auch darüber wachten, dass sich die Eltern keine Sorgen um den Schulweg ihrer Kinder machen mussten. Dann erlosch das Mandat als Europaabgeordnete. Am 15. Juni 2009, Schlag Mitternacht, verlor Viktória Mohácsi ihren Status als VIP und damit das Recht auf persönlichen Schutz.
Ein Blick in ungarische Internetforen erschreckt noch immer. Ich kann mich schwerlich entsinnen, dass je ein Mensch, dem ich begegnet bin, so oft und so heftig verflucht wurde wie Viktória, wobei Schmähungen wie »stinkende Zigeunerhure«, »lausige Hündin« oder »dreckige Schlampe« weiß Gott zu den harmloseren Beleidigungen zählten. Die Unsäglichkeit der Beschimpfungen lag keineswegs in der Obszönität der Wortwahl. Wer die satten Flüche mancher Zigeuner kennt, ist härteren Tobak gewohnt. Die Schäbigkeit der Hasstiraden bestand in ihrer Feigheit. Während Viktória Mohácsi eine couragierte Frau war, die sich mit ihrem Namen der Diskussion ihrer streitbaren Überzeugungen stellte, verbargen sich ihre Gegner in der Anonymität des Internets und flüchteten sich in die Identität ihrer Pseudonyme. Diese Leute warfen keine Benzinflaschen und feuerten keine Schrotgewehre aus dem Hinterhalt ab. Sie säten Angst mit der Waffe des Wortes. Auch wenn Viktória Mohácsi der Ruf als zähe und kompromisslose Aktivistin anhaftete, so entsprach sie nicht dem Typus des glatten und abgebrühten Politprofis, dem der Hass in der Wäsche hängen blieb. »Die Angst und die Unsicherheit«, klagte sie, »machen mich allmählich krank.«
Was musste ein Mensch getan und gesagt haben, um die Aversionen, wenn nicht einer ganzen, so doch eines Gutteils einer Nation auf sich zu ziehen und derart viel böses Blut zum Kochen zu bringen?
Ich erlebte Vitza als eine Frau, die selbstkritisch genug war, um zu wissen, dass sie sich des Öfteren recht weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Und sie wusste auch, dass sie sich keine Freunde geschaffen hatte, als sie redliche Bürgermeister pauschal als »Kriminelle« bezeichnete, weil in deren Gemeinden noch Roma-Kinder in separaten Schulklassen unterrichtet wurden. Solche Entgleisungen mochten einer politischen Karriere hinderlich sein, aber erklärten sie all die bittere Galle, die erbrochen wurde? Mitunter schien mir, als spiegelte sich in der Person von Viktória Mohácsi ein Konflikt wider, der sich auf der Oberfläche der ethnischen Spannungen gar nicht begreifen ließ, als wäre die Roma-Politikerin zur Chiffre eines Unfriedens geworden, einer Entzweiung, die den Kern der ungarischen Nation angegriffen hatte und zu zerstören drohte.
Das Land hatte sich geändert. Vielleicht waren die Ungarn und die Zigeuner vor und nach dem Untergang der Volksrepublik nicht die besten Freunde, aber sie lebten, wenngleich nicht miteinander, so doch nebeneinander. Nun hatten zwei Jahrzehnte gereicht, die Gesellschaft zu spalten und tiefe soziale Gräben aufzureißen. Penetrant einseitige Schuldzuweisungen hatten die Fronten verhärtet. Die Roma klagten, sie würden ausgegrenzt; die Ungarn behaupteten, die Zigeuner seien nicht integrationsfähig. Nichts machte diese Entzweiung für mich anschaulicher als die Existenz zweier Listen, Dokumentationen krimineller Delikte, die in Ungarn begangen wurden. Eine dieser Listen hatte Viktória Mohácsi angefertigt.
Es handelte sich um eine tabellarische Zusammenstellung von Informationen, die Vitza aus allen Teilen des Landes zugetragen worden waren und deren Daten sie in ihrem Computer gespeichert hatte. In Budapest überreichte sie mir einen zehnseitigen Ausdruck, eine Aufstellung von siebzig rassistisch motivierten Übergriffen gegen Roma aus den Jahren 2008 bis 2010. In der Übersicht fanden sich Angaben über den Ort, den Zeitpunkt und die Art der Gewalttat, die Anzahl der Opfer, die Identität der Täter, die zumeist unbekannt blieb, sowie Hinweise auf ein potentielles Tatmotiv. Schließlich folgten noch
Weitere Kostenlose Bücher