Zigeuner
spezifische Form von Zigeunerkriminalität zu erkennen. Gab es so etwas überhaupt? War es zulässig, bestimmte Verbrechen exklusiv einer bestimmten Ethnie zuzuordnen? Im Grunde hatte ich diese Frage für mich längst beantwortet. Selbstverständlich gab es keine Roma-Kriminalität, wohl aber kriminelle Roma, so wie es auch verbrecherische Deutsche, Spanier und Italiener gab. Oder straffällige Bayern, Westfalen oder Sachsen. Oder Katholiken, Protestanten und Freimaurer. Insofern war der Mord an Marian Cozma nicht zigeunertypisch. Die Schuldigen waren abgebrühte Verbrecher. Dass sie ungarische Roma waren, spielte keine Rolle. Und durfte keine spielen. Ich teilte die Einschätzung von Journalisten wie Keno Verseck, der schrieb, Cozma sei von Roma nicht »in ihrer Eigenschaft als Roma erstochen worden, sondern von mutmaßlichen Mafiosi und Schwerkriminellen, die zufällig Roma sind«.
An eine bloße Zufälligkeit indes glaubt eine beträchtliche Zahl von Ungarn nicht. Das ist ein Faktum, das sich natürlich ignorieren lässt. Sobald von »Zigeunerkriminalität« die Rede ist, kommentieren die medialen Meinungsführer in Westeuropa dies gemeinhin als Indiz einer grassierenden rassistischen Gesinnung der Magyaren. Als reisender Journalist hatte mich jedoch etwas stutzig gemacht. Nach gut zwei Dutzend Recherchetouren nach Budapest und in den Osten des Landes erinnerte ich keinen Ungarn, den ich mit ruhigem Gewissen als einen von Ressentiments verblendeten Rassisten hätte bezeichnen können. Statt verbohrter Faschisten, die es zweifelsfrei gab, hatte ich Männer und Frauen getroffen, deren Aufrichtigkeit ich, wie ich zugeben muss, nicht recht zu schätzen wusste. Wenn die Leute sich über die zunehmende Gewalt beschwerten, wenn sie argwöhnten, der Staat habe vor den Machenschaften krimineller Familienclans kapituliert und die Polizei sei nicht mehr in der Lage, die Bürger zu schützen, so tendierte ich dazu, die Klagen eher als Bekundungen von Hysterie, denn als zutreffende Beschreibung der Alltagswirklichkeit zu werten.
Dann sagte Viktória Mohácsi etwas, das mich im Nachhinein irritierte. Nach einem Besuch der Familie Csorba in Tatarszentgyörgy saßen wir im Auto und fuhren über die monotone M5 nach Budapest. Wie so oft drehte sich unser Gespräch um Diskriminierung, Segregation und Gewalt gegen die Zigeuner, als Vitza plötzlich meinte, der Mord an dem Handballer Cozma sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Erst zeitverzögert realisierte ich, welche Brisanz diese Einschätzung barg. Mit dem bildhaften Vergleich drängte sich unweigerlich eine Frage auf. Was war in dem Fass? Was hatte es so voll werden lassen, dass es überlaufen konnte?
Bei der Suche nach einer Antwort kam ich nicht recht voran. Bis zum Mai 2011. Unter der Schlagzeile »Mordswut« hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine Titelgeschichte über die »unheimliche Eskalation der Jugendgewalt« in Deutschland veröffentlicht. Illustriert wurde der Titel mit einem Foto aus einer Überwachungskamera aus dem Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße. Die erschütternde Aufnahme zeigte, wie der 21-jährige Schläger Torben P. den hilflosen Handwerker Markus P. mit aggressiven Fußtritten gegen den Kopf beinahe umbringt. Da ich mit einem befreundeten ungarischen Priester des Öfteren über das Thema Jugendkriminalität diskutiert hatte, machte ich ihn in einer Mail auf die Spiegel -Ausgabe und die Reportage »Kinder der Finsternis« aufmerksam. Wenige Tage später erhielt ich eine Antwort.
»In Deutschland seid ihr über die Gewalt eurer Jugend entsetzt. Nur gesteht anderen diese Empörung auch zu. Macht uns Ungarn nicht zu Faschisten, wenn wir die Gewalt der Roma beim Namen nennen.« Den knappen Worten hatte mein Freund Imre noch einen Internet-Link angefügt. »Kein Kommentar«, schrieb er dazu, als erübrige sich jede Anmerkung von selbst.
Die Verknüpfung führte mich zu einer Dokumentation. Sie ließ sich lesen als Gegenstück zu der akribischen Übersicht, die Viktória Mohácsi erstellt hatte und wie sie ähnlich auch von Amnesty International publiziert wurde. Während die Menschenrechtsorganisation in der Studie »Violent attacks against Roma in Hungary« eine rassistisch motivierte »Hasskriminalität« anklagte, gab die umfangreiche Auflistung im Netz vor, eine andere Seite der Wahrheit zu belegen. Nicht Verbrechen, die an Zigeunern, sondern die von Roma verübt wurden.
Weil die Dokumentation ohne Hinweis auf die
Weitere Kostenlose Bücher