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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Freiheit der Märkte entpuppte. Geblieben war der starrköpfige Wille, nicht unterzugehen in einem Europa, das durchweg als charakterschwach und rückgratlos empfunden wurde. Ausgerechnet im Herzen des alten Kontinents machte sich eine europamüde Verdrossenheit breit, eine Leerstelle, die vielfach mit nationalstolzem Trotz gefüllt wurde.
    »Ein halbes Jahrhundert war Ungarn von der westeuropäischen Freiheitsgeschichte abgeschnitten. Doch nun hat der Liberalismus beängstigende Züge angenommen«, sagte Asztrik Várszegi, der Erzabt der Benediktinerabtei in Pannonhalma. »Die Menschen halten kaum noch Schritt mit der ungeheuren Beschleunigung, die alle Lebensbereiche durchdringt. Mit dem Kapitalismus, so hatten wir gedacht, käme der Wohlstand. Wir haben uns geirrt. Der freie Markt brachte Enttäuschung und Verbitterung für die vielen, die von der wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen sind, während eine exklusive Minderheit über Geld im Überfluss verfügt. Eine echte, von freien Bürgern getragene Gesellschaft mit gemeinsamen Werten muss sich noch bilden.«
    Schon in den Wendejahren ließ sich absehen, dass die Zigeuner, aber auch die Pensionäre und die Arbeitslosen nicht zu den Siegern der Geschichte zählen würden. Nie jedoch war Ungarns sozialer Friede derart gefährdet, dass sich jemand genötigt sah, aus Furcht vor Brandsätzen und Molotowcocktails sein Haus mit Rauchmeldern und Alarmsirenen sichern zu müssen. Im Auge einer Überwachungskamera, die sich im Hof der Familie Mohácsi auf Kinderfahrräder und eine bunte Plastikrutsche richtete, wurde für mich sinnfällig, wie sehr Ungarn sich geändert hatte. Das Klima war beklemmend geworden, durchdrungen von subtiler Feindseligkeit und diffuser Furcht, wobei ich zunächst nicht zu entscheiden vermochte, ob die Ursachen der Bedrohung real waren oder nur der Einbildung entsprangen. Oder beides.
    In den neunziger Jahren fand ich in der damaligen Fernsehmoderatorin Viktória Mohácsi die engagierteste Begleiterin, die ich mir wünschen konnte. Wir besuchten Romungro-Familien in den Dörfern an der Theiss, fuhren zu Schrottsammlern, Paprikapflückern und Bleikochern. Wir landeten bei irgendwelchen Hausschlachtungen an der Donau, tranken selbstgebrannten Pflaumenschnaps und aßen gekochten Schweinebauch aus Eisenkesseln. Wir hockten in dem legendären Budapester Untergrundschuppen Tilos az Á, wurden nachts zu Geburtstagen mit freundlichen Leuten eingeladen, Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte und wahrscheinlich auch nicht wiedersehen würde. Und im Advent feierten wir inmitten fröhlicher Roma-Kinder die weihnachtliche Bescherung mit kostümiertem Nikolaus. Vitza war dabei, als mir Mutter Rosa mit ihrem sechsten Sinn riet, die Finger von schmutzigem Geld zu lassen, und mich auf einem Schrottplatz ein durchgedrehter Kläffer in die Wade biss.
    Als ich Viktória Mohácsi fast auf den Tag genau nach fünfzehn Jahren wiedertraf, war sie nicht mehr nur eine streitende Roma-Bürgerrechtlerin und streitbare Ex-Politikerin, sie war auch Mutter einer bezaubernden Tochter geworden und hatte mit ihrem Ehemann zwei liebenswerte Adoptivkinder in ihre Familie aufgenommen. Sie begrüßte mich lachend und meinte: »Du bist ja immer noch zwei Meter groß«. Diese Beschreibung entspricht beileibe nicht den Tatsachen und wäre auch nicht weiter erwähnenswert, würde sich in ihr nicht die Perspektive einer eher grazilen Frau spiegeln. Vitza wiederum kam mir noch feingliedriger vor als früher. Kämpferisch wie eh und je, ohne Frage. Aber auch dünnhäutiger und verletzlicher. Viel war passiert in den letzten Jahren. Vielleicht zu viel. Vitza nahm die Welt anders wahr als ich. Und es sollte eine Weile dauern, bis ich verstand, welche Lebenserfahrungen uns die Welt mit verschiedenen Augen sehen ließen.
    »Magyarorszég a magyaro ké!« – Ungarn den Ungarn! Obwohl die Plakate, mit denen die rechtsnationale Jobbik-Partei Budapest bei der Parlamentswahl 2010 zukleisterte, längst aus dem Stadtbild verschwunden waren, sah Viktória Mohácsi die Sprüche noch immer an den Fassaden prangen. Genau wie die rot-weiß-grünen Autoaufkleber mit den alten Grenzen Großungarns. Frustrierte Magyaren bekundeten damit an der Heckscheibe ihren Verdruss über die 1920 in Paris geschlossenen Friedensverträge von Versailles-Trianon. Dass ihr Heimatland nach dem Ersten Weltkrieg als Verbündeter Deutschlands über zwei Drittel seines Staatsgebiets an die Sowjetunion, Jugoslawien, die

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