Zigeuner
verabschiedeten uns von Anghel Neluta. Sie begleitete uns zu unserem Auto, das neben der zerborstenen Schultür parkte. Doch unsere Abfahrt verzögerte sich, denn alle vier Reifen waren platt. Es dauerte Stunden, bis wir jemanden gefunden hatten, der den Schaden reparieren konnte. Da mir Sinn und Zweck der polizeilichen Drohgebärde nicht recht einleuchteten, fragte ich meinen Begleiter und Dolmetscher Victor: Wenn Polizisten einem signalisieren wollen, schleunigst zu verschwinden, warum machen sie einem dann das Auto kaputt? Ist das nicht höchst kontraproduktiv?
»Ja«, sagte Victor, »das ist es.«
Und warum tun die Polizisten so etwas?
»Weil sie komplett dämlich sind.«
Jede andere Lösung schloss Victor Sineac definitiv aus. Und auch mir fiel bislang, ehrlich gesagt, keine bessere Erklärung ein.
KAPITEL 6
Unversöhnte Fronten
Gegen die Furcht: Alarmsirene und Überwachungskamera – Viktória Mohácsi: von der leidenschaftlichen Journalistin zu Ungarns meistgehasster Frau – Zwei unheilvolle Listen: Roma als Opfer, Roma als Täter – Der Tod eines Handballers – Ein politischer Fehler und das Ende einer Karriere – Einige verstörende Morde zu viel
Lange Jahre hatte ich Viktória Mohácsi vor unserer gemeinsamen Fahrt nach Tatarszentgyörgy nicht gesehen. Doch als sie das eiserne Tor zum Hof ihres unscheinbaren Hauses am Westrand von Budapest öffnete, stellte sich eine Vertrautheit ein, als hätten wir gestern noch in einem Kaffeehaus bei einem Mokka geplaudert. Dennoch spürte ich, dass etwas anders geworden war. Etwas lag in der Luft, eine Stimmung jenseits persönlicher Befindlichkeiten, ein atmosphärischer Hauch, der nichts Gutes heranwehte. Als mich Vitza auf die Alarmanlage und die Überwachungskameras an ihrem Haus aufmerksam machte, wurde die Ahnung zur Gewissheit: Die Zeiten waren nicht mehr dieselben. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der sozialistischen Volksrepublik Ungarn taten sich trennende Gräben auf, feindliche Fronten gar.
Die Zeiten des postsozialistischen Aufbruchs, die von Offenheit geprägt und von einer den Ungarn ureigenen pessimistischen Zuversicht getragen wurden, waren vorbei. Unwiederbringlich. Die Pseudosattheit an den Fleischtöpfen des Gulaschkommunismus hatte einst den Freiheitsdrang der Magyaren aufblühen lassen. Mit der totalen Kapitalisierung des Landes, unter der Macht von Banken und Konzernen, drohte er nun zu ersticken. Der Hunger nach Recht und Gerechtigkeit war geblieben, doch das Vertrauen in demokratische Wahlmöglichkeiten und in die Aufrichtigkeit politischer Entscheidungsträger war schwer gestört. Spätestens seit 2006, als ein Mitschnitt der berüchtigten »Lügenrede« des sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány an die Öffentlichkeit gelangte. Gyurcsány, durch Investmentgeschäfte zu einem der reichsten Männer Ungarns aufgestiegen, hatte in einer internen Ansprache vor Parteigenossen zugegeben, dem Volk aus wahltaktischen Gründen die katastrophale Haushaltslage und die Notwendigkeit drängender Sparreformen verschwiegen zu haben. »Wir haben gelogen, morgens, abends und nachts«, fluchte er. »Kein Land in Europa hat eine solche Scheiße gebaut wie wir.« Um einen Aufstand erboster Bürger zu unterbinden, wurden in Budapest wochenlang selbst friedliche Massenproteste mit harter Polizeigewalt niedergeschlagen. Was nicht verhinderte, dass sich Gyurcsánys Rede als ein Sargnagel für die politische Kultur erwies und noch heute Wasser nicht nur auf die Mühlen rechter Parteien treibt. Auch bei politisch gemäßigten Ungarn hat die MSZP , die Magyar Szocialista Párt, auf einige Zeit jeden Kredit verspielt.
Als sich das Ende des Sozialismus 2009 zum zwanzigsten Mal jährte, war ich für Renovabis, das Osteuropahilfswerk der deutschen katholischen Kirche unterwegs, um die Alltagserfahrungen der Ungarn nach zwei Dekaden ohne Eisernen Vorhang zu dokumentieren. Ich interviewte Unternehmer, Ingenieure und Intellektuelle, redete mit Arbeitern und Obdachlosen, Kirchenleuten und Künstlern. Mit wem ich auch sprach, überall stieß ich auf tiefe Enttäuschung. Im wahrsten Sinn des Wortes. Die Menschen waren ent-täuscht, waren doch ihre Hoffnungen als Illusion enttarnt worden. Die Sehnsucht vieler Ungarn, nicht nur einer ökonomischen, sondern auch einer ideellen europäischen Wertegemeinschaft anzugehören, war der ernüchternden Einsicht gewichen, einer utopielosen Union beigetreten zu sein, die sich als bloßer Wächter über die
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