Zigeuner
Tschechoslowakei und Rumänien abtreten musste, wird von vielen Ungarn noch immer als Schmach und Demütigung empfunden. Während mir jedoch bei den letzten Autobahnfahrten von Wien über Budapest nach Szeged kaum ein ungarischer PKW mit einem solchen Sticker aufgefallen war, wähnte Vitza die Aufkleber mit den revidierten territorialen Grenzen an jedem dritten Auto. Überhaupt glaubte sie in manchen Momenten der Verzweiflung, das Unheil des Nationalismus lauere hinter jeder dritten Straßenecke und jeder dritte Ungar sei ein Neonazi. Auf meinen Einwand, ich hätte in den letzten zwei Jahrzehnten in Ungarn wohl etwas nörglerische, aber rundum redliche Leute getroffen, keineswegs jedoch von Hass zerfressene Rassisten, lenkte sie mit dem Zugeständnis ein, vielleicht leide sie längst an Verfolgungswahn. Nein, das tat sie gewiss nicht. Aber mir schien, als schaue sie in einen Abgrund, in einen bösartigen Schlund, der sich für jemanden auftut, der ständig auf der Hut sein muss und gelernt hat, sein Lebensumfeld durch den Filter permanenter Bedrohung zu sondieren. Vitza lebte in echter Sorge. Um ihre Familie, um sich und um ihr Volk.
Die junge TV-Moderatorin Viktória Mohácsi hatte die Welt kommentiert, die Politikerin wollte sie gestalten, wobei ihre ganze Leidenschaft nur einem Thema galt: dem Kampf gegen die Diskriminierung der Zigeuner. Zunächst arbeitete sie für das European Roma Rights Centre, das von dem in Ungarn geborenen US -amerikanischen Börsenspekulanten und Multimilliardär George Soros und dessen Open Society Institute unterstützt wird. 2002 zog sie, obschon kein Parteimitglied, für die ungarischen Freidemokraten in das Parlament in Budapest ein. Im Erziehungsministerium der sozial-liberalen Koalition unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány stritt sie hartnäckig gegen die sogenannte Segregation und setzte durch, dass die Kinder der Zigeuner, zumindest nach dem Gesetz, nicht mehr getrennt von den Kindern der ethnischen Ungarn in separaten Klassen unterrichtet werden dürfen. 2004 wurde Viktória Mohácsi für den Bund Freier Demokraten in das Europäische Parlament in Strasbourg gewählt, wo sie die Interessen der Roma-Minderheit vertrat und, wie sie heute sagt, mit Dutzenden Strafanzeigen und Resolutionen gegen rassistische Umtriebe in Italien, Frankreich oder in ihrem Heimatland »für mächtig Ärger sorgte«. Bis zum Sommer 2009.
Bei der Europawahl und den Landeswahlen im darauffolgenden Jahr führten die Siege des nationalkonservativen Bundes Fidesz unter Victor Orban und der populistischen Jobbik zu einem massiven Rechtsruck im ungarischen Parlament. Mit der dramatischen Wahlniederlage der Sozialdemokraten und dem Niedergang der Liberalen verlor auch Viktória Mohácsi die Gunst der Wähler. Aber sie büßte nicht nur ihr europäisches Mandat ein, sondern auch ihre politische Heimat. Es gab kein behütendes Parteiennest, in das sie hätte flüchten, kein soziales Netz, in das sie hätte fallen können. Und vor allem, kaum eine Chance auf einen Job. Obschon sie gerade in den USA mit dem »Human Rights First«-Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden war und ihr der amerikanische Botschafter in Budapest für ihr mutiges Eintreten für Frauen- und Minderheitenrechte den »Women of Courage Award« überreicht hatte, fand Viktória Mohácsi seit dem Ende ihrer parlamentarischen Karriere keine Anstellung mehr. Auch der Weg zurück in den Journalismus blieb ihr versperrt. Keine Zeitung, kein Magazin wollte einen Text unter ihrem Namen drucken. Keine TV-Anstalt hielt die Ex-Reporterin noch für bildschirmtauglich. »Ich war einfach zu oft mit meinen Kommentaren im Fernsehen und auf den Meinungsseiten«, sagte sie nachdenklich. »Mein Fehler war, dass ich mich mit zu vielen Leuten angelegt habe. Ich fürchte, heute bin ich die am meisten gehasste Person in Ungarn.«
Auf den letzten Satz wusste ich nichts zu erwidern. Er traf mich unvorbereitet und machte mich sprachlos. Ich konnte, ich wollte ihn nicht glauben. Zu irreal schien er mir. Wahnhaft womöglich. Aber er entsprang keinem Hirngespinst, keiner phobischen Überempfindlichkeit. In zu vielen Anrufen, in zu vielen E-Mails und persönlichen Angriffen wurde Viktória Mohácsi zur Zielscheibe entfesselten Hasses. »Nächste Woche bist du tot«, »Auch dein Haus wird brennen«, »Auf den Friedhof mit dir«, hieß es immer wieder. In zu viele Roma-Häuser waren Brandsätze geworfen worden, als dass eine Frau Mitte dreißig und Mutter dreier
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