Zigeuner
Energieversorger und den örtlichen Roma-Führern weitgehend erledigt.
Mein erster Weg in Dortmunds Nordstadt führte mich in die vierspurige Bornstraße, die schon bessere Tage gesehen hatte und deren Niedergang gewiss nicht den Roma anzulasten war. Gegenüber dem Restaurante Portugal und dem Sportcafé für Live-Wetten waren die Rollläden des Eiscafés Latino heruntergelassen. Es stand offenbar schon seit längerem zum Verkauf, ebenso wie das »60 m 2 Gewerbelokal voll eingerichtet« oder die »Wohnung + Restaurant« unter der Hausnummer 111. Die Scheiben der Born-Apotheke waren mit Plastikfolie ausgeschlagen, die Fassaden des einstigen Geschäftes »Faxen-Drucken-Kopieren« mit vergilbtem Zeitungspapier verklebt, wobei ein Schild »Dieser Laden wird elektronisch überwacht« die Stätte der Trostlosigkeit noch trostloser machte. In einem Hinterhof, wo das »Kurdische ISLAM Zentrum« ansässig war und die »Eagle Church« Gäste willkommen hieß, hatte jemand Berge von Postwurfsendungen und einige Einkaufswagen voller Prospekte »Tipp der Woche« entsorgt. Und irgendwo zwischen Pitanga-Pub »tropical style« und Trojka »Geschenkartikel aus Russland«, zwischen Treumonia-Haushaltsauflösungen »An- und Verkauf«, »Internet Happy Phone« und »Hairstyle by Arslan & Yusuf« standen ein paar Zigani in der Bornstraße 101 vor einer der Western-Union Filialen, von wo aus die Bulgaren ihre Euro zu den neuen Zweigstellen in Stolipinovo transferierten. Keiner der Männer erweckte den Eindruck, als würde er ein paar Gehminuten weiter in der Rolandstraße beim Diakonischen Werk um Ratschläge für sozialintegrative Maßnahmen ersuchen.
»Diakonie – das ist Hilfe für Menschen in Not, Krankheit und ungerechten Verhältnissen«, so stellt sich der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche im Herzen der Nordstadt vor und bekennt sich dazu, seine sozialen Programme nicht nur als professionelle Dienstleistung, sondern auch als Ausdruck christlicher Nächstenliebe zu verstehen. In der Diakonie saßen engagierte Mitarbeiter, Frauen wie Uta Schütte-Haermeyer, die sich darüber den Kopf zerbrach, wie man die neuen Bewohner der Nordstadt erreichen und unterstützen könne. Die Projektentwicklerin warnte angesichts der vielen Roma vor hysterischen Überreaktionen, mahnte zur Besonnenheit, »ohne die Probleme herunterspielen zu wollen«. Sie vertraute auf den Schmelztiegel Nordstadt, erinnerte an die integrative Kraft seiner Bewohner und setzte auf den Willen der Migranten zum sozialen Aufstieg, der vielen bereits den Umzug in die besseren Wohnviertel Dortmunds ermöglicht hatte. Nun aber war die Nordstadt an eine Grenze gestoßen. Und Uta Schütte-Haermeyer war aufrichtig genug, die eigene Ohnmacht und Ratlosigkeit zu benennen. Und nicht nur die ihre: »Die Menschen hier sind mit dem Verhalten der Roma überfordert.« Reiner Rautenberg, als Pressesprecher der Diakonie des moderaten Wortes mächtig, nickte bestätigend und fügte hinzu: »Wir mussten erst einmal das eigene Erschrecken überwinden. Wir wurden mit Verhaltensweisen konfrontiert, die unsere Phantasie überschritten. Das ging nicht nur uns so, sondern mehr oder weniger der ganzen Stadt.«
In ihren Räumlichkeiten betreibt die Diakonie auch eine Beratungsstelle für Suchtkranke und Wohnungslose. Der angeschlossene »Brückentreff« bietet Bedürftigen die Möglichkeit zum Tagesaufenthalt. Obdachlose finden hier einen Ankerpunkt, eine Schutzzone abseits der Straße, wo sie Kaffee trinken, ausruhen und miteinander reden können. Hier waschen sie ihre Wäsche, duschen und versorgen sich kostenlos mit frischer Kleidung. »Klar schlug der eine oder andere mal über die Stränge«, so Rautenberg, »aber die Streitereien hielten sich in Grenzen.« Bis die Konflikte »eine neue Qualität« erhielten. Im Februar 2011 schauten die ersten bulgarischen Roma in dem Brückentreff vorbei, der Tage später gewaltsam okkupiert wurde. Erstmals in ihrer Geschichte sah sich die Diakonie genötigt, einen Sicherheitsdienst zum Schutz der Einrichtung und der angestammten Klientel zu engagieren.
Die bulgarischen Männer und Frauen, etwa fünfzig an der Zahl, vertrieben die Wohnungslosen, verbarrikadierten sich stundenlang in den Duschen und besetzten die Aufenthaltsräume. Und das über Wochen. Die hauseigene Kleiderkammer wurde leergeräumt, die Klamotten auf einem Parkplatz an neuankommende Roma aus Plovdiv verscherbelt. »Unsere eigentliche Zielgruppe war von allen Leistungen
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