Zigeuner
katholischen Frauen, mal kam sie im Bonifatiusheim des Caritasverbandes unter, eine Einrichtung, die gemeinhin unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufnimmt. Radka haute ab, stand wieder am Bordstein, wurde kontrolliert. »Bestimmt zwanzig Mal.« Irgendwann wusste sie, was sie zu sagen hatte, wenn Polizisten auftauchten. Sie gehe bloß ein wenig spazieren, erklärte sie den Beamten. »Dann konnten die nichts machen, weil das nicht verboten war. Man durfte sich nur nicht allzu freizügig kleiden und sich nicht mit einem Freier erwischen lassen. Aber die Polizisten waren immer höflich. Sie fragten jedes Mal, wer mich hierher gebracht hatte. Dann habe ich geantwortet, ich wäre allein aus Bulgarien gekommen.«
Das behaupten die Opfer der Menschenhändler immer, weiß Andrea Hitzke von der Mitternachtsmission. »Bei Vernehmungen und Razzien der Polizei erzählen die Frauen, sie würden freiwillig der Prostitution nachgehen, weil sie von Drohungen eingeschüchtert sind und die Gewalt fürchten.«
Radka war eine der ersten bulgarischen Roma-Frauen in der Ravensberger Straße. Ihre Arbeit begann um sechs Uhr abends und endete morgens um fünf. Weil sie jung war und die Zahl der Prostituierten vor Jahren noch überschaubar, zahlten die Freier gut. Für bulgarische Verhältnisse. »Dreißig, manchmal 40 Euro für alles«, habe sie für ihre Dienste erhalten, von Männern, von deren Gesichtern sie sich an kein einziges erinnert.
In Stolipinovo sprach sich derweil herum, dass in Dortmund in einer halben Stunde so viel Geld zu verdienen sei, wie der bulgarische Staat im Monat an Sozialhilfe zahlte. Und es kamen neue Frauen. Allein im Jahr 2010 wurden von der evangelischen Mitternachtsmission 685 Bulgarinnen und 314 Rumäninnen betreut. »Mit dem Zuzug der Frauen aus Bulgarien«, sagt Frau Hitzke, »wurde die Konkurrenz im Milieu so groß, dass die Preise völlig in den Keller sackten.« Die Freier verlangten alles, und sie bekamen alles. Zum Billigsttarif. Dass die Zigeunerinnen, fast alle Analphabetinnen, keine Kondome verlangten, dass sie nichts über Aids und Geschlechtskrankheiten wussten und keine Ahnung von Verhütung hatten, blieb nicht ohne Konsequenzen. Viele wurden schwanger. Manche Prostituierte gaben ihre Kinder zur Adoption frei, und die Bild -Zeitung förderte nicht eben das Verständnis für die Not der Frauen mit der Meldung, jede Woche würden in Dortmund bis zu fünf Abtreibungen vom Steuerzahler bezahlt. Irgendwann wurde auch Radka wieder schwanger. Ihr Sohn Nico ist heute drei und lebt in einer Dortmunder Pflegefamilie. Radka hält den Kontakt zu ihrem Jungen.
Verdient hat sie in all den Jahren keinen Cent. Jeden Geldschein strich ihr Zuhälter ein. »An schlechten Tagen zweihundert, an guten vierhundert Euro. Arslan hat sich von dem Geld drei teure Autos gekauft.« Welche Marken das waren, weiß Radka nicht. »Groß waren sie. Und schnell.«
Dann kam jener Tag im Sommer, an dem Radka achtzehn wurde. »Mir ging es schlecht. Ich fühlte mich krank und elend und sagte, ich wolle nicht arbeiten.« Es war das erste Mal, dass Radka Inkova widersprach. Und es war das erste Mal, dass Arslan P. es nicht bei Handgreiflichkeiten beließ. Der Bulgare schlug richtig zu. Wie ein Berserker. Die anderen Frauen auf dem Strich waren beim Anblick Radkas so schockiert, dass sie ihr dringend rieten, sich an die Polizei zu wenden, und ihre Freundin Anetta sie zur Mitternachtsmission brachte. Andrea Hitzke erinnerte sich, dass »Radka schrecklich zugerichtet war und vor Angst zitterte«. »Ich sah so schlimm aus«, so die Romni, »dass mich sogar die Polizei fotografiert hat.«
Im Schutz der Mitternachtsmission sah sich Radka vor der mächtigsten Hürde ihres Lebens. Sie wollte Arslan P. anzeigen. Doch um diesen Schritt zu tun, musste sie die Furcht überwinden. An dieser Stelle ist auf ein Missverständnis aufmerksam zu machen, dem manche Zeitgenossen erliegen. So auch der Verfasser eines Leserbriefes, dessen rabiate Ansichten die Basler Zeitung in der Schweiz abdruckte. Um an die Drahtzieher der ziganen Bettlermafia heranzukommen, schlug der Mann vor, die kleinen Geldeintreiber und Handlanger »per Handschellen abzuführen und bei minimaler H 2 O - und Brotration solange einzulochen, bis die Hintermänner benannt sind«. Abgesehen davon, dass der Schreiber möglicherweise in Nordkorea besser aufgehoben wäre, irrt er gewaltig. Sein Vorschlag wird nicht funktionieren. Das System, das der Zeitungsleser nicht versteht,
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